Im Kinderzimmer
Die Frau am Nachbartisch fledderte jetzt die letzten Fa-sern Hühnerfleisch vom Gerippe. An den Knochen war das Fleisch rosa. Katherine griff hastig nach ihrer Handtasche.
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»Erst die Bilder, denke ich.«
Sie schlenderten ins Foyer der Royal Academy, zahlten – Katherine mit Bedenken. Das Taschengeld für einen solchen Nachmittag wurde knapp bemessen; nie genug übrig für einen Anruf. Sie spielte mit dem Gedanken, sich von Mary ein wenig Kleingeld geben zu lassen, doch Marys brüsker Ton hielt sie davon ab, und jetzt, in der ehr-furchtgebietenden Stille, kehrte der alte Stolz wieder. Sie gingen die Treppe hinauf in den ersten Saal. Katherine hatte einen ausgeprägten Sinn für Bilder. Sie sah sich Bilder an wie andere vielleicht Filme, sah Gestalten, wo keine erkennbar waren, fühlte sich instinktiv zu bestimmten Farbkombinationen hingezogen, konnte versunken in Kunstgalerien umherirren wie eine Schlafwandlerin, alles um sich herum vergessend, konnte endlos verweilen um des schlichten Au-genschmauses willen. Der gemeinsame Besuch der Summer Exhibition war eine feste Einrichtung, an der Katherine aus Liebe zur Sache festhielt, Mary, weil sie es für die Pflicht gebildeter Menschen hielt.
Katherine kam nicht, um Qualität zu suchen, sondern nur, um sich zu verlieren, sich zu berauschen an endlosen Fluchten hintereinander liegender Säle, behielt aber Davids Anweisung im Hinterkopf: »Preis spielt keine Rolle, solange es taugt, notiere dir Titel und Künstlerna-men, merke sie dir vor.« Kunst betrachtete David nicht zuletzt auch als Geldanlage, für die er auf den sicheren Blick seiner Frau angewiesen war. Katherine blieb gebannt vor einer toskanischen Landschaft stehen: leuchtendes Blau, ockergelbe Felder, flimmernd vor Hitze als stünde die Leinwand in Flammen. »Oh! wie schön!« hauchte sie.
»War es so während eurer Flitterwochen?« fragte Mary unvermittelt, auf der Lauer, auf irgendwelche verräterischen Hinweise aus.
»Ich kann mich nicht erinnern«, antwortete Katherine.
Diese knappe Art des Austauschs war zwischen ihnen die Regel, doch heute erschien sie Mary verdächtig, ein Aneinandervorbei, das signifikant sein mußte. Meist ließ sie die Ausstellungsbesuche eher unwillig über sich ergehen, heute war sie gekommen, um ihre Schwester genau zu beobachten. Mary nahm Katherines Zurückhaltung, ihre Selbstzufriedenheit übel, Marys eigener Kopf barst schier vor Eifersucht. Claud hatte nicht angerufen; sie war vollkommen 215
allein, während Katherine umgeben und umworben war. Marys ganze Unzufriedenheit kreiste um Claud, der zwar nicht der eigentliche Quell war, der jedoch in ausreichendem Maß dazu beitrug, um Mary ganz ungewöhnlich irrational werden zu lassen und scharfkantig wie Eis.
Im Saal mit der abstrakten Kunst war noch kein Bild verkauft. Ma-ry zog solche Linien und Formen den realistischeren Darstellungen der, wie sie insgeheim fand, eher banalen Motive vor. Sie gingen weiter. Mary wurde allmählich ungeduldig, sie hatte Hunger und sie konnte die ehrfürchtige Hingabe ihrer Schwester, ihre visuelle An-sprechbarkeit schlecht ertragen. Sie blieb bewußt vor einem groß-
formatigen Bild stehen, nicht abstrakt, sondern allegorisch, nahm sie an, eher im Stil der Surrealisten. Zwei rote Leiber waren auf obszöne Weise verschlungen, sie füllten fast die ganze Leinwand. Im Hintergrund war eine schimmernd weiße Frauengestalt zu erkennen, während leuchtend blaue Tränen im Vordergrund über die Leinwand fielen. Das Bild war ›Ehebruch‹ betitelt, das Wort in großen Lettern von derselben Farbe wie die Tränen über die linke Ecke gemalt.
»Das gefällt mir«, behauptete Mary, vom Teufel geritten. »Phantastisch, findest du nicht?«
Mary war aufgeregt, glaubte an eine Schicksalsfügung, die sie beide hierhergeführt hatte, wo alle Indizien deutlich präsentiert wurden: eine Frau in Weiß, die aus der Entfernung den schreienden Geschlechtsakt verfolgte, weiß bekleidet wie Katherine an dem Tag, an dem sie im Bistro auf Claud gewartet hatte, Katherine aber auch die Frau im Mittelpunkt des Bildes, einer der miteinander verwobenen roten Körper. Doch die surreale Komponente, die Absage an jede Beschönigung beunruhigten Katherine, der vor Häßlichkeit graute.
Sie schüttelte sich vor Mißbilligung. Mary erblickte ein Zerrbild Clauds, Katherine sah David und Monica, entzifferte eine häßliche Botschaft des Verrats.
»Es ist abscheulich. Abscheulich!« flüsterte sie und klackerte auf hohen
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