Im Kinderzimmer
besser. Also geh unter die Leute, triff deine Freundinnen, triff dich mit Mary, mach was Kulturelles, da ist das Telefon. Unternimm irgend etwas. Geh ins Fitneß-Center. Ich hab 212
dich gern um mich, aber nicht ununterbrochen. Die Leute würden es eigenartig finden.«
Ihre Tage sähen also folgendermaßen aus: Sie würde sie mit Jeanetta vorm Fernseher verbringen, falls die Kleine nicht in den Erker kam, wo sie nichts anrichten konnte, während Jeremy an seines Vaters Seite klebte, gleichmütig, mit ständiger Musikberieselung einge-lullt, zufrieden mit Davids Gesellschaft. Ob man den Aufenthalt im Erker nun Haft nennen wollte oder Verwahrung, war letztlich egal; er werde sich schon um sie kümmern, sagte David.
»Nun geh schon, Katherine, du gehst mir auf die Nerven.« Er setzte ihre Verschwiegenheit, ihr Einverständnis mit dem neuen Reglement einfach voraus. »Versteh doch, es tut ihr gut«, versicherte er. Der Süßigkeiten beraubt, die ihr die Harrisons zusteckten, hatte Jeanetta merklich abgenommen. Katherine verstand, daß allein das in Davids Augen Bestätigung für die Richtigkeit seiner Methode darstellte. Das Kind sollte umgemodelt und dem Stromlinienstil des Hauses angepaßt werden.
Laß die Dinge erst einmal laufen, es würde alles wieder besser werden, das wurde es immer. Sie widmete sich wieder ihrer Zeitschrift. »Es handelt sich um eine vorübergehende Phase«, stand da,
»eine Besserung ist abzusehen.« Wenn er sie nur nicht über Nacht dort einsperrte! Aber er schlug sie nicht, wurde nicht grob, verpaßte ihr keine Ohrfeigen. Von solchen Dingen hatte sie gelesen; das war bedenklich, das war ernst zu nehmen. Das taten grausame, brutale Väter. Jeanetta befand sich auch jetzt wieder im Spielerker. Die letzten Tage hatte sie mehr Zeit im Erkerzimmer als außerhalb zuge-bracht. Katherine begann, die Tage an den Fingern abzuzählen und hörte auf.
David war nicht grausam, David war gut. Sie schloß die Augen, sperrte so die optischen Eindrücke aus, plötzlich erschien ihr das sie umgebende Stimmengewirr lauter. Sie dachte an die Flitterwochen mit David in Italien zurück, versuchte, ein Mantra glücklicher Erinnerung heraufzubeschwören, konnte sich aber nur ans Vögeln vor Frühstück, Mittag-, Abendessen, um Mitternacht erinnern, eine einzige Vögelei – wie ein Kater, der sein Revier markiert. Spuren am ganzen Körper, als habe er sie nie zuvor gehabt. Meins, meins, 213
meins! Und sie, sie war es zufrieden gewesen, in Besitz genommen zu werden. Sie wünschte, sie könnte zu diesem Punkt in der Erinnerung zurückkehren und dabei die Übelkeit überspringen, seine Un-gläubigkeit, die in den Jahren seit dieser so unglücklich verfrühten Schwangerschaft offenbar noch gewachsen war. Gewachsen im selben Maße, wie das Haus um sie herum vollkommener geworden war, während er sie nicht mehr wie ein kostbares Kleinod behandelte, ihr nicht mehr die alte Kindlichkeit zugestand. Panik überrollte sie erneut, welche Niederlage sie auch immer in Kauf nehmen müßte, sie mußte es Mary sagen!
»Um Himmels willen, Katherine, wach auf! Du siehst albern aus mit geschlossenen Augen. Tut mir leid, daß ich zu spät komme.«
Katherine zuckte zusammen.
»Ich hatte die Augen nicht geschlossen«, log sie. »Ich habe nur zur Decke rauf geblickt.«
»Aha. Und wieso?«
Mary sortierte ihre Einkaufstüten ohne eine weitere Begrüßung.
Mary wirkte immer rastlos, ständig blickte sie auf die Männeruhr, die zu groß und klobig war für ihr schmales Handgelenk und erinnerte auf diese Weise jeden daran, wieviel sie zu tun hatte, welche Gunst einem erwiesen wurde, wenn man so viel ihrer Zeit beanspruchen durfte. Da sie heute nach Anzeichen von Schuldgefühlen bei ihrer kleinen Schwester forschte, war sie noch unruhiger als sonst, fiel ihre Prüfung noch eingehender aus. Katherine war so schlank wie immer, möglicherweise noch schmaler, aber da ihr Mary darin in nichts nachstand und deshalb kein Anlaß zu Neid geboten war, hielt sie sich damit nicht lange auf. Nein, es war vielmehr das Weiche an Katherine, das sie faszinierte, das so schwer zu greifen war, eine Art Flau-schigkeit, die sie ebenso mit neidischer Gier wie Verachtung erfüllte.
»Heute ist also wieder einmal Kulturschock angesagt?« meinte Ma-ry respektlos. »Wir haben uns ewig nicht gesehen, nett, daß du angerufen hast. Aber dann machen wir das ja auch jedes Jahr, nicht?
Weiß der Himmel warum. Wollen wir erst essen oder erst die Bilder ansehen?«
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