Im Kinderzimmer
Katherine anvertrauen! Wollte ich das tatsächlich? Geht natürlich nicht. Doch nicht einer Diebin.
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Noch während des Aufbruchs am Morgen war sie fest entschlossen gewesen: sie würde alles Mary erzählen, und Mary würde ihr sagen können, ob ihr Leben in Ordnung war. Doch beim Anblick der Speisekarte lösten sich ihre Vorsätze in nichts auf. Nach beinahe zwei Wochen daheim mit Jeanetta war Essen zum Mittelpunkt der Welt geworden. Katherine saß gut sichtbar an einem Tisch im Restaurant neben der Royal Academy und wartete auf Mary. Manchmal sah sie ihr gesamtes Leben als ein einziges Warten, Warten an Tischen – mit den deutlich erinnerten kulinarischen Details als Wegmarken dieses Wartelebens. Sie konnte sich an jedes Gericht erinnern, nicht jedoch mit gleicher Zuverlässigkeit, in wessen Gesellschaft sie dieses genossen hatte, konnte Einzelheiten bildhaft heraufbeschwören, den Geschmack der Speisen Dutzender Gelegenheiten wiedererkennen.
Die Gesichter ihres jeweiligen Gegenübers, ihrer Tischgenossen blieben Schemen. In diesem Augenblick saß schräg vor ihr eine Frau, die kaltes Huhn aß, mit Messer und Gabel an den Knochen hantie-rend, das Gesicht angespannt vor Konzentration, während sie das Fleisch von den Knochen löste und kleine Stücke in den Mund steckte. Katherine fröstelte, und die Frage, was und wie sie es Mary erklä-
ren wollte, entglitt ihr immer mehr.
Mary hatte sich verspätet, absolut untypisch für die Schwester, die sich lieber halb umbringen würde, ehe sie jemanden warten ließ.
Jedenfalls kannte Katherine sie so, sie mochte sich allerdings verändert haben in den letzten Jahren oder gar der letzten Woche, man wußte nie. Das passierte: die Menschen änderten sich, sie wechselten pausenlos die Farbe. Katherine blickte in die Zeitschrift, die sie mitgebracht hatte. Sie nahm immer ein Buch oder eine Zeitschrift mit, um sich notfalls verschanzen zu können, doch sie las im Grunde wenig, hauptsächlich Zeitschriften, deren Hochglanzpapiere, Abbil-dungen von verlockenden Dingen und vor allem deren Platitüden, Kummerspalten und Ratschläge – besonders die mit Fotos versehenen tröstlichen Artikel über alles und nichts – sie magisch anzogen.
Aus diesen Zeitschriften übernahm sie Ideen, speicherte Informationen über Kindererziehung, die wie weggeblasen waren, sobald sie 209
Jeanetta gegenüberstand. Auf Jeremy hatte sie nie irgendwelche an-gelesenen Regeln oder Anregungen übertragen, dachte sie beschämt.
Oje, wie wenig hatte sie in ihrem langen Leben begriffen! Beim nervösen Blättern hielt sie jetzt inne, schlug die Heftseiten zurück, ge-fesselt von der Überschrift »Wie wird man mit dem Trotzalter fertig?«, und überflog den Artikel, während sie gleichzeitig nach Mary Ausschau hielt. Zu dem Beitrag gab es die Aufnahme eines lauthals plärrenden zahnlosen Kleinkindmäulchens. »Diese Wutausbrüche legen sich«, stand dort. Das taten sie aber nicht, oder sie hielten bei Jeanetta ungewöhnlich lange an. Und das war auch der Grund, weshalb Jeanetta jetzt zu Hause im Spielerker eingesperrt war. »Am besten ignoriert man die Tobsuchtsanfälle der cholerischen Kleinen«, riet der Artikel. Katherine las mit zusammengekniffenen Augen und blätterte dann weiter. Vielleicht hatten sie ja recht. Kinder waren zäh, sehr widerstandsfähig. Gut zu wissen.
Jeanetta hatte die eine Nacht im Erker nicht sonderlich beeindruckt, so schien es jedenfalls. Als David, dicht gefolgt von der besorgten Katherine, am Morgen die Tür aufgeschlossen hatte, hatte das Kind trotzig inmitten eines Haufens Kleider gethront. Sie hatte in die Hose gemacht und eines von Katherines abgelegten Abendkleidern durch-näßt. Ein scharfer Ammoniakgeruch schlug ihnen entgegen. Ihr Gesichtchen war voller roter Flecken, die Haare hingen ihr wirr in die Stirn. Sie hatte geweint, das sah man, und obgleich sie stumm blieb, blickte sie kampflustig drein. Sie war immer schon ein starrköpfiges Kind gewesen. »Geh, wasch dich«, hatte David befohlen. Mutter und Tochter waren nach oben gegangen; Tränen vergoß Jeanetta über die Tortur des Zähneputzens, sie schniefte vor sich hin, sagte keinen Ton und machte sich erst einmal stocksteif, als Katherine sie in ihrer üblichen Unbeholfenheit in den Arm nehmen wollte, sich auf diese Weise entschuldigen wollte, ohne Jeanettas Verhalten direkt gutzuhei-
ßen. Das Kind hatte sich erweichen lassen und hatte die Umarmung erwidert. Sie blieb auch dann noch stumm, als sie
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