Im Kinderzimmer
knibbelte an der Farbe. Dann ließ sie sich zu Boden gleiten, gab sich alle Mühe, nicht zu weinen. Sei brav, sei brav. Der Hals tat ihr weh. »Du hast mich angelogen, Jack, du Lügner, hast du aber!« Sie wollte traurig sein, war aber wütend, ohnmächtig wütend, schwach. Am liebsten wollte sie irgend etwas kaputtmachen. Wann immer sie wütend wurde, verschwand Jack.
Draußen in der Küche hörte sie das untere Telefon klingeln. Papas Stimme.
»Nein, tut mir leid, heute nicht. Sie ist nicht da. Wie geht’s?«
Nicht schreien, mahnte sie sich, mit verzerrtem Gesicht, der Hals zu trocken für Protest, die Händchen zu Fäusten geballt, um die Trä-
nen zurückzuhalten. Wo bist du, Jack? Wo bist du hingegangen?
Komm zurück, bitte! Er würde schon wiederkommen, tröstete sie 232
sich. Irgend jemand mußte doch kommen. Sie war immer noch wü-
tend, dachte immer noch daran, daß sie nicht schreien durfte.
Jeanetta, geschwächt, aber voller Zorn, schaute sich nach etwas um, das sie mit den Zähnen zerreißen könnte.
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15
Katherine lag wie gekreuzigt auf dem Bett. Alles tat ihr weh. Sie lauschte seinem regelmäßigen Atem und den Geräuschen der Nacht.
Wie sehr konnte man im Unrecht sein? dachte sie. Ihr brach der Schweiß aus, Angst überrollte sie. Wie sehr konnte man im Unrecht sein? Sie beherrschte sich mit Mühe, zwang sich zu aller Ruhe, derer sie fähig war, versuchte sich einzureden, daß nur ihr Unheil drohte, weil sie alles aus dem Ruder hatte laufen lassen, bildete sich ein, daß nur sie Gefahr lief, wollte um alles in der Welt glauben, daß, wenn sie nur tat, was von ihr erwartet wurde, alles wieder gut würde. Heute abend hatten ihr im Badezimmerspiegel ältere und weisere Augen entgegengeblickt. Zum allererstenmal hatte sie erkannt, wo die wirkliche Gefahr lag und wer wirklich gefährdet war. Die Erkenntnis war hartnäckig; sie wollte sie nicht, doch sie ließ sich nicht abschütteln.
Sie hatte Schmerzen, ohne sie lokalisieren zu können. Sie strich sich an den Innenschenkeln entlang, um das Gefühl des Wundgerie-benseins und den Ekel fortzuwischen. Sie war knochentrocken gewesen, sie hatte sich weder gewehrt noch hatte sie sich geöffnet, als er in sie eingedrungen war. Aus dem Spielzimmer im unteren Stock drangen jetzt nicht mehr Jeanettas eigenartiges wimmerndes Weh-klagen – oder waren es Schreie? –, ihre Selbstgespräche, ihr Singsang zu ihr. Alle diese hilflosen Kinderlaute waren Gott sei Dank verebbt, als David sie, auf seinen Arm gestützt wie eine alte Frau, nach oben geführt, ja fast getragen hatte.
Jeanetta hatte nichts gegessen heute, auch gestern nicht. Eigentlich kaum noch etwas in den Tagen seit dem Treffen mit Mary, als sie zurückgekehrt war und in der Küche von bodenlosem Entsetzen gepackt wurde, als das mal ab-, dann wieder anschwellende Geheul sie überfiel, das von Jeanettas Anwesenheit hinter der Tür zeugte. Seit-her jeden Tag das gleiche. Jeremy war außer Hörweite zum Mittagsschlaf hingelegt worden, weil er sonst prompt mit einstimmte. David war wie ein Habicht aus dem Atelier geschossen und hatte sich auf Katherine gestürzt, deren Einmischung er nicht duldete. Ihr Protest fiel auf taube Ohren.
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»Ja, natürlich brüllt sie, mein Schatz. Sie war unartig. Sie hat ein schlechtes Gewissen.«
»Sie hat Hunger! Sie hat… wie lange?… nichts mehr gegessen?
Wieso läßt du sie nicht heraus? Sie hätte doch draußen bei dir bleiben können.«
Er zuckte mit den Achseln. »Sie ist zu fett; sie braucht nichts zu essen.«
»David!«
»Laß sie.« Er, der im Besitz des Schlüssels zum Erkerzimmer war, hatte ihr die Tür vor der Nase zugemacht.
An jenem Tag, meinte sie, sich entsinnen zu können, hatten sie das Kind abends herausgeholt, ihm ein wenig Brot zu essen gegeben.
Doch in den darauffolgenden Tagen hatte sie weit mehr Zeit im Spielerker verbracht als sonst irgendwo, abgesehen von ein, zwei kurzen Besuchen im Garten. Dort hatte sie Blätter gegessen. Patsy tat das auch, hatte sie versichert. Und Gras. Als Katherine sie heute angesehen hatte, hatte sie ihre eigene, dicke Tochter kaum wiederer-kannt. Jeanetta schlotterten die Kleider am Leib, und die Ärmchen, die aus den Ärmeln der schmutzigen Baumwollbluse herausschauten, waren alles andere als feist. Längst mußte sie doch schmal genug sein für den Stromlinienstil dieses Haushalts. Die Mutter wollte glauben, David hätte nichts weiter im Sinn als eine Art Zwangsdiät –
mit dem Ziel, Jeanetta
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