Im Kinderzimmer
ihrer Stuhllehne vorbei, strich ihr wie vorhin schon einmal übers Haar, und alles war wieder wie vorher. Katherine holte tief Luft. Es würde alles wieder gut.
Sebastian Thorpe fuhr zu Hause vor, parkte seinen Mercedes vorm erleuchteten Haus der Allendales, angezogen vom freundlichen Wi-derschein, enttäuscht, als das Licht erlosch. Er mußte Susan wirklich mal bei Gelegenheit von David Allendale erzählen, da gab es pikante Details seiner Familiengeschichte, die sie bestimmt amüsieren würden. Falls er sie überhaupt erheitern konnte oder sie jemals im wachen Zustand zu sehen bekam. Er wünschte, das Licht bei den Nachbarn wäre angeblieben, ein freundliches Leuchtfeuer, das ihn heim-geleiten könnte. Bei ihm zu Hause kein Lebenszeichen. Widerstre-bend schloß er die Haustür auf, in der schwülen Abendluft schwitzend.
Kaum war er drinnen verschwunden mitsamt dem Jackett, das er bereits ausgezogen hatte, da schoß unter einem Baum auf der anderen Straßenseite der kränklich bleiche Obdachlose hervor und preßte sich an die warme Motorhaube des Mercedes. Ihm, dem der kalte Schweiß auf der fiebernden Stirn stand und den es fröstelte, erschien der Abend alles andere als schwül, um so weniger, als ringsum die Lichter ausgingen. Aber das würde schon wieder werden: Es war 60
Sommer, das hatte ihm im Park ein plärrendes Radio verkündet. Das war gut: das Überleben gesichert.
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Vormittage konnten eine unvorhersehbare Wendung nehmen. Je weniger sie daher über sie nachdachte, hatte Katherine festgestellt, desto weniger fielen sie ins Gewicht und um so besser liefen sie. Der Morgen, mit der Aussicht darauf, dem Haus entfliehen zu können –
so sehr ihr das kühle Interieur auch gefiel –, hatte schon seinen Reiz.
Morgens hatte sie alle Sinne beieinander. Sie staunte über den unfehlbar braven Jeremy. Nie hätte sie es für möglich gehalten, daß kleine Kinder so sein könnten, aber er schien so zu sein, so zu bleiben und ein absoluter Goldjunge werden zu wollen. Vom ersten Moment an war er so gewesen, eine Freude schon bei der Geburt.
Mit einem kleinen Schrei des Erstaunens eher denn des Zorns war er auf die Welt gekommen, auch wenn er dabei seine Mutter fast umge-bracht hatte – eine Tatsache, die Katherine nie ganz vergessen konnte. Sie vermutete zwar, daß er nicht durchweg so brav war, schließ-
lich sah sie ihn ja nicht immer, sah ihn kaum, genaugenommen, und fast hätte man meinen können, daß er den braven Jungen herauskehr-te, um sich beim Vater einzuschmeicheln, wenn es nicht unsinnig erschienen wäre, einem Kind von nur dreiundzwanzig Monaten die bewußte Dauerinszenierung des positiven Gegenparts zu Jeanetta zuzutrauen, doch exakt diese Rolle spielte er. Den braven kleinen Jeremy betrachtete Katherine mit schuldbeladener Mißgunst. So liebenswert, so leicht zu lieben. Um seiner Schwester und ihrer selbst willen nahm sie es übel.
Jeanetta nämlich mußte eine halbe Stunde vorm Frühstück unter Gezeter und Geschrei angezogen werden. Sie wollte partout den Flanellschlafanzug anbehalten, in dem sie gestern heimgebracht worden war, der so schön weit, so bequem war. Zwar waren die überlangen Beine beim Gehen hinderlich, ansonsten aber war er die ideale Garderobe für einen lauen Frühsommermorgen. Derlei Überlegungen dürfte Jeanetta kaum angestellt haben, konnte jedoch keineswegs einsehen, weshalb sie ihren kleinen Wanst in ein weniger angenehmes Korsett zwängen sollte. Der Gummizug ihrer Baum-wollhose kniff in die Speckrollen ihres Bauchs, an den Knien war sie durchgewetzt. Das T-Shirt rutschte immer wieder mitsamt Unter-62
hemdchen über den Bauch hoch, machte sie noch unförmiger. Trotz der grauenhaft uneben gestutzten aschblonden Locken, deren Enden trotzig aus dem Halsausschnitt zum Vorschein kamen, war dies nach wie vor Jeanetta, wie sie leibte und lebte, der zarte Teint bereits erhitzt und rotgefleckt von den morgendlichen Gefühlsstürmen.
»Jetzt putz dir bitte brav die Zähne, mein Schatz, für die Mama.
Bitte.« Mutter und Tochter hielten sich an einen geheimen Pakt, taten, als wäre nichts geschehen, trotz fehlender Locken.
»Will nicht. Warum? Warum darf ich nicht mein Schlafanzug haben?«
»Nicht ›mein‹, ich meine deinen Schlafanzug, Marks Schlafanzug.«
»Er hat gesagt, ich darf!«
»Ja, Liebling. Aber seine Mama bestimmt nicht. Komm, Spatz, putz dir die Zähne. Es gibt gleich Frühstück.«
Das Frühstück wäre das nächste Debakel. Jeanetta löste in
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