Im Koma
dass du mich nicht an diesem schrecklichen, dunklen Ort allein lassen würdest.
»Ich kann einfach nicht glauben, dass das Casey ist«, sagte Gail. »Als ich sie zum letzten Mal gesehen habe, sah sie so schön aus, so voller Leben.«
»Sie ist immer noch schön«, entgegnete Warren, obwohl Casey einen defensiven Unterton heraushörte. »Die schönste Frau der Welt«, sagte er, und seine Stimme verlor sich.
Casey stellte sich vor, wie ihm Tränen in die Augen schössen, gegen die er tapfer ankämpfte. Wenn sie diese Tränen nur wegwischen könnte. Wenn sie ihn nur küssen und alles gutmachen könnte.
»Worüber habt ihr bei eurem Mädelstreffen eigentlich gesprochen?«, fragte er. »Du hast mir noch gar nichts von dem Mittagessen erzählt.«
»Da gibt es nicht viel zu erzählen«, sagte Gail, der kurze Satz eingerahmt von einem zweimaligen Kichern. »Um ehrlich zu sein, weiß ich gar nicht mehr, worüber wir geredet haben. Das Übliche, nehme ich an.« Sie lachte erneut, obwohl es eher traurig als fröhlich klang. »Mir war nicht klar, dass ich unserem Treffen mehr Bedeutung als üblich hätte zumessen sollen. Mir war nicht bewusst, dass es vielleicht unsere letzte Begegnung sein könnte. O Gott.« Ein lautes Schluchzen zerriss die Luft wie ein Donnerschlag aus dem Nichts.
O Gail, bitte nicht weinen. Alles wird gut. Ich werde wieder gesund. Versprochen.
»Tut mir leid, das vergesse ich immer wieder«, sagte Warren. »Für dich wühlt es bestimmt schmerzhafte Erinnerungen auf.«
Casey malte sich aus, wie Gail sanft mit den Schultern zuckte und ein paar widerspenstige Strähnen hinter ihr rechtes Ohr strich. »Mike war die letzten beiden Monate vor seinem Tod in einem Hospiz«, sagte Gail über ihren Mann, der vor fünf Jahren an Leukämie gestorben war. »Man konnte nichts für ihn tun außer zuzusehen, wie er langsam immer mehr abbaute. Aber wir hatten wenigstens ein paar Jahre, um uns darauf vorzubereiten«, fuhr sie fort. »Obwohl man im Grunde nie wirklich darauf vorbereitet ist«, sagte sie im nächsten Atemzug. »Nicht bei jemandem, der so jung ist.«
»Casey wird nicht sterben«, beharrte Warren.
Er hat recht. Die Arzte haben eine Fehldiagnose gestellt. Das Ganze ist ein großer Irrtum.
»Ich denke nicht mal darüber nach, die lebenserhaltenden Maßnahmen zu beenden.«
»Die lebenserhaltenden Maßnahmen beenden?«, fragte Gail. »Wann haben die Ärzte denn vorgeschlagen, die lebenserhaltenden Maßnahmen zu beenden.«
»Gar nicht. Sie waren sich mit mir einig, dass es noch viel zu früh ist, um in diese Richtung zu denken.«
»Natürlich. Wer dann?«
»Was glaubst du?«
»Oh«, sagte Gail. »Ich wusste nicht, dass Drew in letzter Zeit hier war.« Meine Schwester war hier?
»Soll das ein Scherz sein? Sie war nur einmal hier, direkt nach dem Unfall. Sie sagt, sie erträgt es nicht, ihre Schwester in diesem Zustand zu sehen.«
»Klingt wie Drew«, sagte Gail.
»Gestern Abend hat sie angerufen und nach dem neuesten Stand gefragt«, fuhr Warren fort. »Als ich ihr erzählt habe, dass Caseys Zustand unverändert ist, wollte sie wissen, wie lange ich sie so leiden lassen wolle. Sie sagte, sie kenne ihre Schwester viel länger als ich und wisse, dass sie auf keinen Fall als hirntoter Krüppel enden wollte...«
Hirntoter Krüppel? Nein, die Ärzte haben sich geirrt und alle unnötig verrückt gemacht.
»... der nur von ein paar Schläuchen und einem Beatmungsgerät am Leben erhalten wird.«
»Nur so lange, bis sie wieder allein atmen kann«, sagte Gail entschieden. So eindringlich hatte Casey ihre Freundin lange nicht erlebt. »Casey wird das durchstehen. Die gebrochenen Knochen wachsen wieder zusammen. Ihr Körper heilt sich selbst. Sie kommt wieder zu sich. Du wirst sehen, Casey wird wieder so wie eh und je sein. Das Koma ist nur eine Reaktion ihres Körpers, um sich selber zu heilen. Wir sollten dankbar sein, dass sie nicht wach ist und weiß, was los ist...«
Nur dass sie es trotzdem wusste, musste Casey sich eingestehen, als ihr der Ernst ihrer Lage plötzlich mit aller Wucht deutlich wurde.
Die Patientin ist eine zweiunddreißig)'ährige Frau, Opfer eines Unfalls mit Fahrerflucht vor etwa drei Wochen... Sie wird künstlich ernährt und beatmet... Polytrauma... komplizierte Operationen... externe Fixation... massive Unterleibsblutungen... Splenektomie durchgeführt... Patientin womöglich für den Rest ihres Lebens im Koma.
Für den Rest ihres Lebens im Koma.
»Nein, nein, nein!«, rief
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