Im Koma
Casey. Aber sosehr sie es auch leugnete, wegerklärte und vorgab, die Ärzte könnten sich irren, so wenig ließ sich die grausame Wahrheit ihres Zustands noch länger verdrängen: Sie war eine zweiunddreißigjährige Frau, gefangen in einem möglicherweise irreparablen Koma, in dem sie gemeinerweise hören, jedoch nichts sehen, denken, sich jedoch nicht mitteilen, existieren, aber nicht agieren konnte. Ohne die Hilfe einer Maschine konnte sie nicht einmal atmen. Das war schlimmer als in einer dunklen, feuchten, unterirdischen Höhle verloren zu sein. Oder als lebendig begraben. Schlimmer noch als tot zu sein. War sie dazu verdammt, den Rest ihrer Tage in dieser dunklen Bewegungslosigkeit zu verharren und nicht unterscheiden zu können, was wirklich passierte und was sie sich nur einbildete? Wie lange konnte das so gehen?
Subduralhämatome... Schädelplatte durchbohrt... angestautes Blut abfließen... schweres Schädel-Hirn-Trauma... Casey Marshall könnte noch jahrelang künstlich beatmet werden. Sie könnte aber auch ebenso gut morgen aufwachen.
Wie viele Stunden, Tage, Wochen konnte sie hier im Dunkeln liegen und einer Folge von Stimmen lauschen, die wie Wolken durch ihren Kopf schwebten? Wie viele Wochen, Monate, Jahre - Gott behüte - konnte sie überleben, ohne die Menschen zu erreichen, die sie liebte?
Das Gehirn der Patientin ist ordentlich durchgerüttelt worden.
Und wie lange konnte es dauern, bis die Besuche ihrer Freundinnen weniger wurden und ganz aufhörten, wie lange, bis am Ende auch ihr Mann weiterzog? Gail sprach kaum noch von Mike. Und Warren war erst siebenunddreißig. Vielleicht umsorgte er sie noch ein paar Monate, vielleicht sogar ein Jahr oder zwei, aber irgendwann würde er sich in die allzu bereitwilligen Arme einer anderen locken lassen. Und nach und nach würden auch alle anderen wieder in den gewohnten Trott ihres Alltags verfallen. Irgendwann würden selbst die Ärzte das Interesse verlieren. Man würde sie in eine Reha-Einrichtung bringen, wo sie am Ende eines muffigen Flures in einem Rollstuhl festgeschnallt einer endlosen Folge von trostlos schlurfenden Schritten lauschen musste. Wie lange konnte es dauern, bis sie verrückt wurde vor frustrierter Wut, schierer Langeweile und der Vorhersehbarkeit des Ganzen?
Sie könnte aber auch ebenso gut morgen aufwachen.
»Ich könnte auch morgen aufwachen«, wiederholte Casey und versuchte, Trost aus dem Gedanken zu ziehen. Wie sie mitbekommen hatte, hatte der Unfall sich vor drei Wochen ereignet. Also war Gails Optimismus vielleicht nicht ganz unbegründet. Vielleicht war es ein gutes Zeichen, dass sie jetzt hörte, ein Indiz dafür, dass sie sich auf dem Weg der Besserung befand. Ihr Hörsinn war zurückgekehrt. Sie hatte die Augen geöffnet. Vielleicht würde sich die Dunkelheit morgen lichten, und sie konnte wieder sehen. Wenn erst mal der Schlauch aus ihrem Mund entfernt war - War das bereits geschehen? Hatten die Ärzte die Tracheotomie, über die sie gesprochen hatten, schon durchgeführt? Und wenn ja, wann? -, dann würde sie vielleicht lernen, ihre Stimmbänder wieder zu benutzen. Sie hatte schon gelernt, die Stimmen der anderen besser zu unterscheiden. Sie verschwammen nicht mehr miteinander wie am Anfang oder klangen, als würden sie durch eine dicke Mauer zu ihr dringen. Vielleicht war es morgen noch besser. Vielleicht konnte sie mit Blinzeln auf Fragen reagieren. Vielleicht konnte sie den anderen irgendwie mitteilen, dass sie wach war und mitbekam, was gesagt wurde.
Vielleicht wurde sie sogar wieder gesund.
Genauso gut konnte es aber auch sein, dass ihr überhaupt nicht zu helfen war, dachte sie plötzlich ernüchtert. Und in diesem Fall hatte ihre Schwester recht.
Dann wäre sie lieber tot.
»Verfolgt die Polizei eine neue Spur?«, hörte sie Gail fragen.
»Nicht dass ich wüsste«, sagte Warren. »Keine Kfz-Werkstatt in Philadelphia hat die Reparatur eines Wagens durchgeführt, der so schwer beschädigt war, wie man es nach einem solchen Unfall vermuten würde. Und trotz der ganzen Berichterstattung haben sich auch keine Zeugen gemeldet. Der Wagen hat sich scheinbar in Luft aufgelöst.«
»Wie kann jemand etwas so Schreckliches tun?«, fragte Gail. »Ich meine, es ist schon schlimm genug, dass er sie angefahren hat, aber sie dann einfach so liegen zu lassen...«
Casey stellte sich vor, dass Warren den Kopf schüttelte. Sie sah eine Strähne seines hellbraunen Haars in seine Stirn und seine dunkelbraunen Augen
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