Im Krebsgang
worden war, vor Publikum die Einzelheiten seiner
Rettung zu berichten.
Überhaupt und aus naheliegenden Gründen gibt es immer weniger
Zeugen des Unglücks. Wenn zum Fünfundachtziger-Treffen noch
über fünfhundert Überlebende und Retter gekommen waren,
hatten sich diesmal nur knapp zweihundert versammelt, was Mutter
veranlaßte, mir während der Feierstunde zuzuflüstern:
»Baldich wird kainer von ons mehr lebendich sain, nur du.
Abä du willst ja nech aufschraiben, was ech diä alles schon
immer erzählt hab.«
Dabei bin ich es gewesen, der ihr, lange bevor die Mauer weg war, auf
Umwegen das Buch von Heinz Schön geschickt hat, zugegeben, um
ihren nagenden Vorwürfen zu entkommen. Und kurz vor dem Treffen in
Damp bekam sie von mir ein Taschenbuch, das drei Engländer beim
Ullstein-Verlag veröffentlicht hatten. Aber auch diese, wie ich
einräumen muß, zwar ziemlich sachlich, aber zu unbeteiligt
geschriebene Dokumentation der Schiffskatastrophe konnte ihr nicht
gefallen: »Das is mir alles nech persenlich jenug erlebt. Das
kommt nich von Harzen!« Und dann sagte sie, als ich bei ihr zum
Kurzbesuch auf dem Großen Dreesch war: »Na, vleicht wird
mal main Konradchen eines Tags drieber was schraiben...«
Deshalb hat sie ihn nach Damp mitgenommen. Sie kam, nein, trat auf in
einem knöchellangen und hochgeschlossenen Kleid, schwarzer Samt,
der ihr kurzgehaltenes Weißhaar betonte. Wo sie stand oder bei
Kaffee und Kuchen saß, war sie Mittelpunkt. Besonders zog sie
Männer an. Das war, wie man weiß, schon immer so. Ihre
Schulfreundin Jenny hat mir von all den Jungs erzählt, die
während Mutters Jugendzeit regelrecht an ihr klebengeblieben sind:
sie soll von Kindheit an nach Knochenleim gestunken haben; und ich
behaupte: selbst in Damp war noch ein Hauch dieses Geruches zu erahnen.
Dort waren es alte, zumeist in dunkelblaues Tuch gekleidete Herren,
zwischen denen sie hager, zäh und in Schwarz stand. Zu den
beleibten Grauköpfen zählte ein ehemaliger
Kapitänleutnant und Kommandant des Torpedobootes T 36, dessen
Mannschaft einige hundert Schiffbrüchige gerettet hatte, zudem ein
überlebender Offizier des gesunkenen Schiffes. Besonders aber war
die Erinnerung an Mutter bei Besatzungsmitgliedern des
Torpedobootes Löwe frisch geblieben. Mir kam es vor, als
hätten die Herren auf sie gewartet. Sie umringten Mutter, die sich
andeutungsweise mädchenhaft gab, und kamen nicht von ihr weg. Ich
hörte sie kichern, sah, wie sie mit verschränkten Armen
Position einnahm. Doch nicht mehr von mir und meiner Geburt zur Stunde
des Untergangs wurde geredet, vielmehr ging es um Konny. Mutter stellte
den betagten Herren meinen Sohn vor, als wäre er ihr eigener; und
ich hielt Distanz, wollte nicht befragt, womöglich von den
Löwe-Veteranen gefeiert werden.
Aus einiger Distanz fiel auf, daß sich Konny, den ich als eher
schüchternen Jungen kannte, überaus selbstbewußt in der
ihm von Mutter zugedachten Rolle bewegte, knapp, aber deutlich Antwort
gab, Fragen stellte, konzentriert zuhörte, ein jungenhaftes Lachen
riskierte und sogar für Fotos stillhielt. Mit seinen
annähernd fünfzehn Jahren - im März würde es soweit
sein - wirkte er keine Spur kindlich, vielmehr reif für Mutters
Absicht, ihn ganz und gar zum Mitwisser des Unglücks und - wie
sich zeigen sollte - Verkünder der Legende eines Schiffes zu
machen.
Fortan drehte sich alles um ihn. Obgleich ja beim Treffen der
Überlebenden jemand dabei war, der am Vortag des Unterganges auf
der Gustloff geboren wurde, und ihm wie mir vom Autor Schön
persönlich ein Buch übergeben worden ist - die Mütter
wurden auf der Bühne mit Blumensträußen geehrt -, kam
es mir vor, als geschehe das alles, um meinen Sohn in die Pflicht zu
nehmen. In ihn setzte man Hoffnung. Von unserem Konny wurde
Zukünftiges erwartet. Er, war man sich sicher, werde die
Überlebenden nicht enttäuschen.
Mutter hatte ihn in einen dunkelblauen Anzug gesteckt, zu dem ihm eine
collegemäßige Krawatte verordnet worden war. Mit Brille und
Lockenhaar wirkte er wie eine Mischung aus Konfirmand und Erzengel. Er
trat auf, als habe er eine Mission zu verbreiten, als werde er
demnächst etwas Erhabenes verkünden, als sei ihm eine
Erleuchtung zuteil geworden.
Ich weiß nicht, auf wessen Vorschlag Konrad beim
Gedenkgottesdienst, der zur Stunde, als die Torpedos das Schiff trafen,
abgehalten wurde, jene neben dem Altar aufgehängte Gongglocke
anschlagen sollte, die von polnischen Tauchern Ende der siebziger Jahre
vom
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