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Im Krebsgang

Im Krebsgang

Titel: Im Krebsgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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Ganz allein sei sie gewesen und habe hinter
der zur Winterzeit unbelegten Jugendherberge mit der Taschenlampe die
bestimmte Stelle gesucht. Lange sei sie unsicher gewesen, habe dann
aber unter bedecktem Himmel und bei Nieselregen entschieden: hier war
es. »Abä nich fier den Justloff bin ech mitte Blumen
jekommen. Der war nur ain Nazi von viele, die abjemurkst wurden. Nai,
fier das Schiff ond all die Kinderchen, die draufjegangen sind damals
inne eiskalte See, hab ech jenau um zwaiundzwanziguhrachtzehn main
Strauß weiße Rosen abjelegt. Ond jewaint hab ech dabai noch
finfondvierzig Jahr danach...«
    Fünf Jahre später war Mutter nicht mehr
allein. Herr Schön und die Kurdirektion des Ostseebades Damp sowie
die Herren vom Kuratorium »Rettung über See« hatten
eingeladen. Schon zehn Jahre zuvor war es an gleicher Stelle zu einem
Treffen der Überlebenden gekommen. Damals gab es noch Mauer und
Stacheldraht, und aus dem ostdeutschen Staat hatte niemand anreisen
dürfen. Diesmal jedoch kamen auch diejenigen, für die der
Untergang des Schiffes etwas war, das über die Zeit hinweg von
Staats wegen beschwiegen werden mußte. So konnte es nicht
verwundern, daß die Gäste aus den neuen Bundesländern
besonders herzlich begrüßt wurden; unter den
Überlebenden sollte es keinen trennenden Unterschied zwischen
Ossis und Wessis geben.
    Im großen Festsaal des Kurortes hing
über der Bühne ein Transparent, auf dem von Zeile zu Zeile in
unterschiedlich großen Buchstaben zu lesen stand:
»Gedenkfeier zum 50.
Jahrestag des Untergangs der Wilhelm Gustloff im Ostseebad Damp vom 28. bis 30.
Januar 1995«. Der zufällige Umstand, nach dem dieses Datum
zugleich an die Machtergreifung von dreiunddreißig und an den
Geburtstag jenes Mannes erinnerte, der von David Frankfurter erschossen
wurde, auf daß dem Volk der Juden ein Zeichen gesetzt war, ist
öffentlich nicht erwähnt worden, bekam aber in der einen oder
anderen Gesprächsrunde, sei es beim Kaffeetrinken, sei es
während Veranstaltungspausen, den Wert eines halblauten
Nebensatzes zugesprochen.
Mich hatte Mutter gezwungen, dabeizusein. Sie kam mir mit einem
unwiderlegbaren Argument: »Wo du nu och fuffzich wirst...«
Unseren Sohn Konrad hatte sie eingeladen und, weil Gabi nichts
dagegenhalte, wie ein Beutestück mitgenommen. Sie fuhr in ihrem
sandfarbenen Trabant vor: in Damp, zwischen Mercedes- und Opelkarossen,
eine Sehenswürdigkeit. Meine zuvor ausgesprochene Bitte, sich mit
mir zu begnügen und Konny mit Vergangenheitsduseleien zu
verschonen, hatte sie überhört. Als Vater und auch sonst
zählte ich nicht, denn was die Einschätzung meiner Person
betraf, stimmten Mutter und meine Ehemalige, die sich sonst mieden,
überein: für Mutter war ich, wie sie zu sagen pflegte,
»ain Schlappjä«; von Gabi bekam ich bei jeder sich
bietenden Gelegenheit zu hören, daß ich ein Versager sei.
So konnte es nicht verwundern, daß die zweieinhalb Tage in Damp
für mich eher peinlich verlaufen sind. Stand dumm herum, rauchte
wie ein Schlot. Als Journalist hätte ich natürlich eine
Reportage, zumindest einen Kurzbericht schreiben können.
Wahrscheinlich haben die Herren vom Kuratorium etwas in dieser Art von
mir erwartet, denn anfangs hat mich Mutter als »Reporter von
Springer saine Zaitungen« vorgestellt. Ich habe nicht
widersprochen, aber auch nichts außer dem Satz »Das Wetter
ist, wie es ist« zu Papier gebracht. Als wer hätte ich denn
berichten sollen? Als »Kind der Gustloff«? Oder als von
Berufs wegen Unbeteiligter?
Mutter hat auf alles Antwort gewußt. Da sie inmitten der
Versammlung einige Überlebende wiedererkannte und spontan von
ehemaligen Besatzungsmitgliedern des Torpedobootes Löwe
angesprochen wurde, nahm sie jede Gelegenheit wahr, mich, wenn nicht
als SpringerReporter, dann als »das Jongchen, das mitten im
Unjlick jeboren wurd« vorzustellen. Und selbstverständlich
fehlte nicht ihr Hinweis, daß ja der Dreißigste Anlaß
geben werde, meinen fünfzigsten Geburtstag zu feiern, auch wenn an
diesem Tag die Stunde des stillen Gedenkens auf dem Programm stehe.
Nun soll es ja vor dem Zeitpunkt des Untergangs, aber auch tags darauf
mehrere Geburten gegeben haben, doch bis auf eine Person, die am
Neunundzwanzigsten geboren wurde, waren keine Gleichaltrigen in Damp
dabei. Überwiegend sahen einander nur alte Leute, weil kaum Kinder
gerettet worden sind. Zu den jüngeren zählte ein dazumal
Zehnjähriger aus Elbing, der heute in Kanada lebt und vom
Kuratorium gebeten

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