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Im Krebsgang

Im Krebsgang

Titel: Im Krebsgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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achteren Oberdeck des Wracks geborgen worden war. Nun,
anläßlich des Treffens der Überlebenden, hatte die
Besatzung des Bergungsbootes Szkwal den Fund als Zeichen
polnisch-deutscher Annäherung überreicht. Aber es ist dann
doch Herr Schön gewesen, der zum Abschluß des
Gedenkgottesdienstes dreimal die Glocke mit dem Hammer anschlagen
durfte.
    Der Zahlmeisterassistent auf der Gustloff
zählte, achtzehn, als das Schiff sank. Ich will nicht
verschweigen, daß man ihm, der beinahe alles gesammelt und
erforscht hat, was nach dem Unglück ausfindig zu machen war, in
Damp wenig Dankbarkeit zeigte. Als er zu Beginn der Feierlichkeiten
seinen Vortrag zum Thema »Die Versenkung der Wilhelm Gustloff am
30. Januar 1945 aus der Sicht der Russen« hielt und im Verlauf
der Rede deutlich wurde, wie oft er bei seinen Recherchen die
Sowjetunion besucht hatte und dabei sogar einem Bootsmann des U-Bootes
S 13 begegnet war, mehr noch, mit jenem Wladimir Kourotschkin, der auf
Befehl seines Kommandanten die drei Torpedos auf den Weg gebracht
hatte, in freundschaftlicher Verbindung stand, sogar mit dem alten Mann
beim Händeschütteln fotografiert worden war, habe er, wie es
bei Heinz Schön später zurückhaltend hieß,
»einige Freunde verloren«.
    Man schnitt ihn nach dem Vortrag. Vielen
Zuhörern galt er fortan als Russenfreund. Für sie hatte der
Krieg nie aufgehört. Für sie war der Russe der Iwan, die drei
Torpedos Mordwaffen. Für Wladimir Kourotschkin jedoch ist das aus
seiner Sicht namenlos sinkende Schiff vollbeladen mit Nazis gewesen,
die sein Heimatland überfallen und beim Rückzug nur
verbrannte Erde hinterlassen hatten. Erst durch Heinz Schön erfuhr
er, daß nach der Torpedierung mehr als viertausend Kinder
ertrunken, erfroren sind oder mit dem Schiff in die Tiefe gerissen
wurden. Von diesen Kindern soll der Bootsmann noch lange und in
Wiederholungen geträumt haben.
    Daß Heinz Schön dann doch den geborgenen
Schiffsgong anschlagen durfte, wird die ihm zugefügte
Kränkung ein wenig gemildert haben. Mein Sohn aber, der den
Torpedoschützen, vereint auf einem Foto mit dem Gustloff-Forscher,
auf seiner Homepage aller Welt vorgestellt hat, kommentierte dieses
Detail einer nachwirkend völkerverbindenden Tragödie mit dem
Hinweis auf die Herkunft des so treffsicheren U-Bootes, indem er die
»Qualität deutscher Wertarbeit« betonte und sich zu
der Behauptung verstieg: Nur dank eines nach deutschen
Konstruktionsplänen gebauten Bootes seien die Sowjets auf
Höhe der Stolpebank zum Erfolg gekommen.
    Und ich? Nach dem Gedenkgottesdienst habe ich mich
zum nachtdunklen Strand verdrückt. Lief auf und ab. Allein und
gedankenleer. Da kein Wind ging, schlug auch die Ostsee nur matt und
nichtssagend an.
5
    Das nagt an dem Alten. Eigentlich, sagt er,
wäre es Aufgabe seiner Generation gewesen, dem Elend der
ostpreußischen Flüchtlinge Ausdruck zu geben: den
winterlichen Trecks gen Westen, dem Tod in Schneewehen, dem Verrecken
am Straßenrand und in Eislöchern, sobald das gefrorene
Frische Haff nach Bombenabwürfen und unter der Last der
Pferdewagen zu brechen begann, und trotzdem von Heiligenbeil aus immer
mehr Menschen aus Furcht vor russischer Rache über endlose
Schneeflächen... Flucht... Der weiße Tod... Niemals, sagt
er, hätte man über so viel Leid, nur weil die eigene Schuld
übermächtig und bekennende Reue in all den Jahren
vordringlich gewesen sei, schweigen, das gemiedene Thema den
Rechtsgestrickten überlassen dürfen. Dieses Versäumnis
sei bodenlos...
    Doch nun glaubt der alte Mann, der sich
müdegeschrieben hat, in mir jemanden gefunden zu haben, der an
seiner Stelle - »stellvertretend«, sagt er - gefordert sei,
über den Einfall der sowjetischen Armeen ins Reich, über
Nemmersdorf und die Folgen zu berichten. Stimmt, ich suche Wörter.
Doch nicht er, Mutter zwingt mich. Und nur ihretwegen mischt sich der
Alte ein, gleichfalls gezwungen von ihr, mich zu zwingen, als
dürfe nur unter Zwang geschrieben werden, als könne auf
diesem Papier nichts ohne Mutter geschehen.
    Er will sie als ein unfaßbares, durch kein
Urteil dingfest zu machendes Wesen gekannt haben. Er wünscht sich
eine Tulla von gleichbleibend diffuser Leuchtkraft und ist nun
enttäuscht. Niemals, höre ich, hätte er gedacht,
daß sich die überlebende Tulla Pokriefke in solch banale
Richtung, etwa zur Parteifunktionärin und stramm das Soll
erfüllenden Aktivistin entwickeln würde. Eher wäre von
ihr Anarchistisches, eine irrationale Tat, so

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