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Im Krebsgang

Im Krebsgang

Titel: Im Krebsgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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erreichte die Hafenstädte
Pillau, Danzig und Gotenhafen. Hunderttausende versuchten, auf dem
Schiffsweg dem immer näher rückenden Schrecken zu entkommen.
Hunderttausende - Statistiken weisen über zwei Millionen
westwärts gerettete Flüchtlinge aus - drängten an Bord
von Kriegs-, Passagier- und Handelsschiffen; so wurde auch die an
Gotenhafens Oxhöft-Kai seit Jahren festliegende Wilhelm Gustloff
bedrängt.
    Ich wünschte, ich könnte es mir so
einfach machen wie mein Sohn, der auf seiner Website verkündete:
»In Ruhe und Ordnung nahm das Schiff die vor der russischen
Bestie fliehenden Mädchen und Frauen, Mütter und Kinder
auf...« Warum unterschlug er die gleichfalls eingeschifften
tausend U-Bootmatrosen und dreihundertsiebzig Marinehelferinnen,
desgleichen die Bedienungsmannschaften der eilig aufmontierten
Flakgeschütze?
    In einem Nebensatz erwähnte er zwar, daß
zu Beginn und gegen Schluß auch Verwundete an Bord gebracht
wurden - »Unter ihnen waren Kämpfer von der Kurlandfront,
die noch immer dem Anprall der roten Flut standhielt...« -, doch
als er die Umrüstung des Kasernenschiffes in einen
seetüchtigen Transporter zu schildern begann, zählte er zwar
akribisch auf, wie viele Zentner Mehl und Trockenmilch, welche Anzahl
geschlachteter Schweine an Bord kamen, verschwieg aber kroatische
Kriegsfreiwillige, die schlecht ausgebildet die Schiffsbesatzung
ergänzen mußten. Nichts über unzureichendes
Funkgerät. Nichts über die Übung für den
Katastrophenfall: »Schotten schließen!«
Verständlich, daß er die vorsorgliche Einrichtung einer
Entbindungsstation herausstrich, aber was hinderte ihn, den Zustand
seiner damals hochschwangeren Großmutter auch nur anzudeuten? Und
kein Wort über die fehlenden zehn Rettungsboote, die zur
Vernebelung des Hafens bei Luftangriffen abkommandiert und durch
Ruderboote mit geringem Fassungsvermögen sowie eilig gestapelte
und festgezurrte Rettungsflöße aus gepreßtem Kapok
ersetzt worden waren. Nur als Flüchtlingsschiff sollte die
Gustloff den Internet-Usern bekannt gemacht werden.
    Warum log Konny? Warum beschwindelte der Junge sich
und andere? Warum wollte er, der sonst so penible Detailkrämer,
dem das Schiff seit KdF-Zeiten bis in den Wellentunnel und hintersten
Winkel der Bordwäscherei begehbar war, nicht zugeben, daß
weder ein Rotkreuztransporter noch ein ausschließlich mit
Flüchtlingen beladener Großfrachter am Kai lag, sondern ein
der Kriegsmarine unterstelltes, bewaffnetes Passagierschiff, in das
unterschiedlichste Fracht gepfercht wurde? Warum leugnete er, was seit
Jahren gedruckt vorlag und selbst von den Ewiggestrigen kaum mehr
bestritten wurde? Wollte er ein Kriegsverbrechen konstruieren und mit
der geschönten Version des tatsächlichen Geschehens den
Glatzen in Deutschland und sonstwo imponieren? War sein Bedürfnis
nach einer sauberen Opferbilanz so dringlich, daß auf seiner
Website nicht einmal des zivilen Kapitäns Petersen
militärischer Gegenspieler, Korvettenkapitän Zahn, samt
seinem Schäferhund auftreten durfte?
    Kann nur ahnen, was Konny zum Schummeln bewogen
haben mag: der Wunsch nach einem ungetrübten Feindbild. Die
Geschichte mit dem Hund jedoch hat mir als Tatsache Mutter geliefert;
sie ist ja als Kind schon auf Schäferhunde fixiert gewesen. Zahn
hatte seinen Hassan seit Jahren an Bord. Ob auf Deck oder in der
Offiziersmesse, überall trat er mit Hund auf. Mutter sagte:
»Das könnt man von unten, wo wir jewartet ham, aber nech
raufdurften, jenau sehn, wie oben son Käpten anne Reling mit
sainem Gissert jestanden is ond auf ons Flichtlinge runterjeguckt hat.
Der sah fast jenau wie onser Harras aus...«
    Sie wußte, wie es auf der Kaianlage zuging:
»Ain Jedränge war das ond ain ainzijes Durchainander. Erst
ham se alle, die ieber die Treppe raufkamen, noch ordentlich
aufjeschrieben, aber denn gab's kain Papier mehr...« So wird die
Zahl auf immer ungewiß bleiben. Doch was sagen Zahlen? Zahlen
stimmen nie. Immer muß man den Rest schätzen.
    Registriert wurden sechstausendsechshundert
Personen, unter ihnen rund fünftausend Flüchtlinge. Doch ab
dem 28. Januar drängten weitere Massen, die nicht mehr
abgezählt wurden, treppauf. Waren es zwei- oder dreitausend, die
ohne Nummer und namenlos blieben? Etwa so viele Essenskarten sind von
der Schiffsdruckerei zusätzlich gedruckt und von den zum
Hilfsdienst abkommandierten Marinehelferinnen verteilt worden. Auf paar
hundert mehr oder weniger kam und kommt es in solchen Fällen

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