Im Krebsgang
etwas wie ein durch
nichts zu motivierender Bombenanschlag zu erwarten gewesen oder eine im
kalten Licht erschreckende Einsicht. Schließlich, sagt er, sei es
die halbwüchsige Tulla gewesen, die in Kriegszeiten und also
inmitten willentlich Blinder abseits der Flakbatterie Kaiserhafen eine
weißlich gehäufte Masse als menschliches Gebein erkannt,
laut den Knochenberg genannt habe: »Das issen Knochenberj!«
Der Alte kennt Mutter nicht. Und ich? Kenne ich
sie? Allenfalls hat Tante Jenny, die einmal zu mir gesagt hat:
»Im Grunde ist meine Freundin Tulla nur als verhinderte Nonne zu
begreifen, als stigmatisierte natürlich...«, eine Ahnung von
ihrem Wesen oder Unwesen. Doch soviel stimmt: Mutter ist nicht zu
fassen. Selbst als Parteikader war sie nicht auf Linie zu bringen. Und
als ich in den Westen wollte, hat sie bloß »Na, von mir aus
mach rieber« gesagt und mich nicht verpfiffen, weshalb man sie in
Schwerin ziemlich unter Druck gesetzt hat; sogar der
Staatssicherheitsdienst soll bei ihr angeklopft haben, mehrmals, ohne
nachweislichen Erfolg...
Damals war ich ihr Hoffnungsträger. Doch als
aus mir kein Funken zu schlagen war und nur Zeit verpuffte, begann sie
- kaum war die Mauer weg - meinen Sohn zu kneten.
Erst zehn oder elf war Konny, als er seiner Großmutter in die
Finger fiel. Und seit dem Treffen der Überlebenden in Damp, wo ich
nur eine Null am Rande gewesen bin, er aber Kronprinz wurde, hat sie
ihn mit Flüchtlingsgeschichten, Greuelgeschichten,
Vergewaltigungsgeschichten vollgepumpt, die sie zwar nicht leibhaftig
erlebt hatte, die aber, seitdem im Oktober vierundvierzig russische
Panzer über die östliche Reichsgrenze gerollt und in die
Landkreise Goldap und Gumbinnen vorgestoßen waren, überall
erzählt und verbreitet wurden, auf daß Schrecken um sich
griff.
So wird, so kann es gewesen sein. So ungefähr
ist es gewesen. Als wenige Tage nach dem Vorstoß der sowjetischen
II. Gardearmee die Ortschaft Nemmersdorf von Einheiten der deutschen 4.
Armee zurückerobert wurde, war zu riechen, zu sehen, zu
zählen, zu fotografieren und für alle Kinos im Reich als
Wochenschau zu filmen, wie viele Frauen von russischen Soldaten
vergewaltigt, danach totgeschlagen, an Scheunentore genagelt worden
waren. T-34-Panzer hatten Flüchtende eingeholt und zermalmt.
Erschossene Kinder lagen in Vorgärten und
Straßengräben. Sogar französische Kriegsgefangene, die
nahe Nemmersdorf in der Landwirtschaft hatten arbeiten müssen,
sind liquidiert worden, vierzig an der Zahl, wie es hieß.
Diese und weitere Einzelheiten fand ich unterm
mittlerweile geläufigen Signum im Internet. Zudem stand in
Übersetzung ein von dem russischen Schriftsteller Ilja Ehrenburg
verfaßter Appell zu lesen, nach dessen Wortlaut alle russischen
Soldaten aufgerufen wurden, zu morden, zu vergewaltigen, Rache zu
nehmen für das von den faschistischen Bestien verwüstete
Vaterland, für »Mütterchen Rußland«. Unter
der Chiffre »www.blutzeuge.de« klagte mein nur mir
kenntlicher Sohn in der Sprache der damals offiziellen Verlautbarungen:
»Das taten russische Untermenschen wehrlosen deutschen Frauen
an...« - »So wütete die russische Soldateska...«
- »Dieser Terror droht immer noch ganz Europa, falls gegen die
asiatische Flut kein Damm errichtet wird...« Als Zugabe hatte er
ein CDU-Wahlplakat der fünfziger Jahre eingescannt, das ein
gefräßiges Ungeheuer asiatischen Typs zur Schau stellte.
Im Netz verbreitet und von weiß nicht wie
vielen Usern runtergeladen, lasen sich diese Sätze und bebilderten
Satzfolgen wie auf gegenwärtiges Geschehen gemünzt,
wenngleich das ohnmächtig zerfallende Rußland oder die
Greuel auf dem Balkan und im afrikanischen Ruanda nicht benannt wurden.
Um sein jeweils neuestes Programm zu illustrieren, genügten meinem
Sohn die Leichenfelder der Vergangenheit; die trugen, gleich wer sie
bestellt hatte, jederzeit Frucht.
Mir bleibt nur zu sagen, daß in jenen Tagen,
als Nemmersdorf zum Inbegriff alles Schrecklichen wurde, die
eingeübte Verachtung des Russischen in Angst vor den Russen
umschlug. Die über die zurückeroberte Ortschaft verbreiteten
Zeitungsberichte, Radiokommentare, Wochenschaubilder lösten in
Ostpreußen eine Massenflucht aus, die sich ab Mitte Januar, vom
Beginn der sowjetischen Großoffensive an, zur Panik steigerte.
Mit der Flucht auf dem Landweg begann das Sterben am Straßenrand.
Ich kann es nicht beschreiben. Niemand kann das beschreiben. Nur
soviel: Ein Teil der Flüchtlinge
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