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Im Krebsgang

Im Krebsgang

Titel: Im Krebsgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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Sache, behielt den Durchblick, hatte für alles eine Lösung parat und brachte seinen Fall auf den Punkt, während Anklage und Verteidigung, die dreieinigen Gutachter und auch der Richter samt Beisitzern und Schöffen hilflos auf der Suche nach dem Tatmotiv herumirrten, wobei sie Gott und Freud als Wegweiser bemühten. Ständig strengten sie sich an, den, wie der Verteidiger sagte, »armen Jungen« zum Opfer gesellschaftlicher Verhältnisse, einer
gescheiterten Ehe, schulisch einseitig orientierter Lernziele und einer gottlosen Welt zu machen, schließlich sogar, wie meine Ehemalige sich erkühnte, »die von der Großmutter über den Sohn an Konrad weitergereichten Gene« schuldig zu sprechen.
Vom eigentlichen Opfer der Tat, dem Beinahe-Abiturienten Wolfgang Stremplin, der sich online zum Juden David erhöht hatte, war vor Gericht so gut wie nie die Rede.
Schamhaft blieb er ausgespart, kam nur als Zielobjekt vor. So meinte der Verteidiger, ihm die provozierende Vortäuschung falscher Tatsachen ankreiden zu dürfen. Zwar blieb der Befund »selber schuld« unausgesprochen, doch nistete er in Nebensätzen wie diesen: »Das Opfer habe sich geradezu angeboten.« Oder: »Es war mehr als fahrlässig, den Internet-Streit in die Wirklichkeit zu verlagern.«
Jedenfalls kamen dem Täter größere Portionen Mitleid zu. Wohl deshalb ist das Ehepaar Stremplin noch vor der Verkündung des Urteils abgereist. Das taten sie, nicht ohne Gabi und mir in einem Café gegenüber dem Gerichtsgebäude zu versichern, daß eine zu harte Bestrafung unseres Sohnes nicht in ihrem, gewiß nicht in Wolfgangs Sinn sein könne. »Wir sehen uns frei von irgendwie gearteten Rachegelüsten«, sagte Frau Stremplin.
    Wäre ich rein berufsmäßig, das heißt als Journalist zugelassen gewesen, hätte ich das auf Totschlag abgemilderte Urteil als ein »zu geringes Strafmaß«, wenn nicht gar als »Justizskandal« kritisiert; so aber, jenseits meiner Journalistenpflicht und ganz auf meinen Sohn konzentriert, der die sieben Jahre Jugendhaft unbewegt hinnahm, war ich entsetzt.
    Verlorene Jahre! Er wird vierundzwanzig sein, falls er die Strafe voll absitzen muß. Durch tagtäglichen Umgang mit Kriminellen und wirklichen Rechtsradikalen verhärtet, wird er dann zwar in Freiheit leben, doch voraussichtlich wiederum straffällig werden und abermals in Haft kommen. Nein! Dieses Urteil ist nicht hinzunehmen.
    Konny jedoch weigerte sich, die vom Anwalt aufgezeigte Möglichkeit zu nutzen, durch Wiederaufnahme des Prozesses eine Revision des Urteils zu erstreiten. Ich kann nur wiedergeben, was er zu Gabi gesagt haben soll: »Einfach schwer zu kapieren, daß ich nur sieben Jahre bekommen habe. Den Juden Frankfurter haben sie damals zu achtzehn Jahren verknackt, von denen er allerdings nur neuneinhalb abgesessen hat...«
    Mich wollte er nicht sehen, bevor er abgeführt wurde. Und noch im Gerichtssaal hat er nicht etwa seine Mutter, sondern seine Großmutter umarmt, die ihm, trotz hochhackiger Schuhe, nur bis zur Brust reichte. Als er gehen mußte, blickte er sich noch einmal um; kann sein, daß er Davids oder Wolfgangs Eltern gesucht und vermißt hat.
    Als wir kurz danach vor dem Landgerichtsgebäude auf dem Dremmlerplatz standen und ich mir endlich eine Zigarette ins Gesicht stecken konnte, erlebten wir Mutter in Wut. Sie hatte den Fuchs und mit dem Fell und Halsschmuck für offizielle Anlässe ihr gestelztes Hochdeutsch abgelegt: »Das is doch kaine Jerechtichkait!« Wütend riß sie mir die Zigarette aus dem Mundwinkel, zertrampelte sie stellvertretend für irgend etwas, das zu vernichten war, schrie anfangs und redete sich dann in Eifer: »Schwainerei is das! Jiebt kaine Jerechtichkait mehr. Nich das Jungchen, mich hätten se ainlochen jemußt. Na ja doch, ech binnes jewesen, die ihm erst das Computerding und dann das Schießaisen auf vorletzte Ostern jeschenkt hat, weil se main Konradchen perseenlich bedroht ham, die Glatzköppe.
    Ainmal kam er richtig blutig jeschlagen nach Haus. Hat aber nich jewaint, kain bißchen. Aber nai! Das lag schon lang inne Kommode von mir. Hab ech glaich nach de Wende auffem Russenmarkt jekauft. War janz billig. Aber vor Jericht hat mir ja kainer jefragt, na, wo es herkommt, das Ding...«
9
    Eine Verbotstafel, die von Beginn an stand. Strikt hat er mir untersagt, mit Konnys Gedanken zu spekulieren, das, was er denken mochte, als Gedankenspiel in Szene zu setzen, womöglich aufzuschreiben, was im Kopf meines Sohnes zu Wort kommen und

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