Im Kreis des Wolfs
Unterbringung ist, gelinde gesagt, primitiv: Schlafräume ohne Türen oder Fenster, Feldbetten und ein Moskitonetz mit (wenn man Glück hat) nur wenigen Löchern. Jedenfalls war dieser Deutsche, Hans-Herbert, ziemlich müde und legte sich gleich nach dem Abendessen aufs Ohr. Als seine Zimmergenossen ein paar Stunden später auch ins Bett wollten, sahen sie, dass er mit einem Arm über den Bettrand baumelnd eingeschlafen war und sich (ich hoffe, Du kannst es verkraften, Helen) eine vier Meter lange Boa Constrictor gerade daran machte, seinen Arm zu verschlingen. Bis zum Ellbogen steckte er bereits in der Schlange drin, und der arme Hans-Herbert schlief wie ein Baby!!
Sie haben versucht, ihn behutsam aufzuwecken, aber er ist natürlich ziemlich ausgerastet. Man hat ihm – und der Schlange! – eine Beruhigungsspritze verpasst und es geschafft, das Tier vom Arm zu ziehen. Unglaublich, nicht! Die Verdauungssäfte hatten bereits Hand und Finger angegriffen, so dass ihm vielleicht etwas Haut transplantiert werden muss, aber ansonsten ist er okay. Der Schlange geht’s nicht so gut. Man hat sie unten am Fluss ausgesetzt (allerdings ohne Ohrclip und Halsband), aber ein paar Kids aus dem Lager haben sie entdeckt und zum Frühstück verspeist.
Ist noch besser als die ›Python unterm Haus eines alten Ehepaars in Georgia‹, was?
Eine Menge Lebensmittel (und Medizin), die man angeblich zu uns ausfliegt, kommen hier nicht an. Sie werden entweder gleich am Flugplatz von korrupten Regierungsbeamten gestohlen, oder die A.C.L. entführt die Laster auf dem
Weg hierher. Meistens behalten sie die Ladung für sich, aber manchmal versuchen sie auch, sie wieder an uns zu verkaufen. Uns bleibt nichts anderes übrig, als bei diesem Spiel mitzumachen.
Die letzte Gruppe, die herkam, um mit uns zu verhandeln, bestand fast nur aus Kindern, Zwölf-, Dreizehnjährige, allesamt mit Kampfanzug und Patronengürtel. Einer von ihnen, ein kleiner Junge, kaum älter als zehn, trug ein M16-Maschinengewehr und ging unter dem Gewicht fast in die Knie. Das Erschreckendste an ihnen waren die Augen. Man fragt sich, was sie für schlimme Dinge gesehen oder getan haben, dass sie einen mit solchen Augen anschauen.
Aber, was soll’s, wir verbringen hier eine phantastische Zeit!
Nein, es ist nicht alles so schlimm. Vor allem wegen der ungewöhnlichen Leute, mit denen ich zusammenarbeite. Und das, Helen, ist der eigentliche Grund, weshalb ich Dir schreibe. Es fällt mir nicht leicht, das zu sagen …
Helen spürte, wie sich etwas in ihr verkrampfte. Sie hielt noch immer den Becher Tee in der Hand, und um nichts zu verschütten, stellte sie ihn auf den Boden. O Joel, flehte sie lautlos, nicht, bitte sag’s nicht. Ihr Herz raste, und ihre Hände zitterten, als sie sich zwang weiterzulesen.
…
Marie-Christine ist seit sechs Monaten hier. Sie ist Belgierin, lebt aber in Paris. Ausgebildet ist sie als Kinderärztin, aber hier muss man irgendwie alles können. Wir haben uns nicht gleich kennengelernt, weil …
Helen warf den Brief zornig auf den Boden. Warum sollte sie diesen Mist lesen? Wie konnte er es wagen, ihr das alles haarklein zu erzählen – klar doch, die nette, süße Marie-Christinewar sicher phantastisch, Pin-up-Girl und Mutter Teresa in einem und dazu noch ein ordentlicher Schuß Pariser Chic – wie konnte er nur?
Einen Moment saß sie da und starrte auf den Lichtfleck, den der Strahl ihrer Stirnlampe an die Tür warf. Einfach lächerlich, wie er sich durch ihren Atem hob und senkte. Dann hob sie den Brief wieder auf – sie konnte nicht anders – und las weiter.
…
sie sich irgendwo einige Tage erholte. Doch als wir uns trafen – ach, Helen, es fällt mir so schwer, Dir das zu schreiben –, da war es, als würden wir uns schon lange kennen.
Das kommt mir bekannt vor, dachte Helen. Sie überflog den Brief und suchte nach dem Wort »seelenverwandt«, konnte es aber nirgendwo entdecken; zum Glück, denn sonst hätte sie vermutlich einen Schreikrampf bekommen und mit der Faust gegen die Wand gehämmert.
Jedenfalls haben wir dann zusammengearbeitet und diese mobile Station betreut, die täglich alle Flüchtlingscamps aufsucht, und ich habe gesehen, wie wunderbar sie mit Kindern umgehen kann. Die beten sie einfach an. Vielleicht sollte ich Dir das alles gar nicht schreiben, aber ich möchte es gern und bin mir sicher, dass ich es kann, Helen, da wir uns doch so nah waren und so viele herrliche Stunden miteinander
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