Im Kreis des Wolfs
Helen plötzlich Luke. Er kam die Straße herunter, hatte sie aber noch nicht entdeckt. Es schien, als suche er jemanden.
»Luke!«
Er drehte sich um und sah sie sofort. In seinem braunen Regenmantel mit dem hochgestellten Kragen wirkte er sehr blass und traurig. Als er näher kam, versuchte er zu lächeln und nickte ihr zu, so dass ihm das Wasser vom Hutrand lief.
»Ich h-h-hab Sie gesucht.«
»Ich Sie auch. Da drinnen, meine ich. Haben Sie gesehen, was passiert ist?«
Er nickte und schaute dabei zu seinem Vater hinüber, der immer noch interviewt wurde.
»Ich k-k-kann nicht bleiben.« Er zog etwas aus seiner Manteltasche und gab es ihr. »H-H-Hier, das habe ich gefunden. Lag neben der Straße.«
Es war ein Brief. Der Umschlag war schmutzig und die Tinte verlaufen, aber Joels Handschrift konnte sie trotzdem noch erkennen. Ihr Herz machte einen kleinen Satz.
»Ich g-g-geh jetzt lieber.«
»Ja, okay, danke sehr.«
Er nickte, drehte sich um und ging.
»Luke?«, rief sie.
Er wandte sich um, und plötzlich ahnte sie, wie sehrihn das, was mit dem Wolf passiert war, schmerzte. »Kommen Sie mich mal besuchen?« Er schüttelte den Kopf. »Ich k-k-kann nicht.« Und er ging durch den Regen und war bald in der Menge verschwunden.
21
16. September
Mwanda-Hospital, Kagambali
Meine liebe Helen,
hast Du sie schon gefangen? Nein? Dann pass auf und mach Folgendes: Du besorgst Dir einen Metalleimer – aber einen ganz GROSSEN, ja? Zwei Meter tief und drei Meter im Durchmesser dürften reichen. Dann legst Du einen Mast mit einer sich drehenden Öltonne darüber, und auf die schnallst Du anschließend einen TOTEN ELCH. Diese Methode besitzt das Latimer-Gütesiegel und wird seit Jahrhunderten in North Carolina angewandt, was erklärt, warum wir da so wenig Wölfe haben. Schreib mir, wie Du vorankommst, okay?
Das mit der Hütte klingt phantastisch. Das alte Haus meiner Großmutter hatte auch so einen Kriechkeller voller Spinnen und allem möglichen Zeug. Ich hab mich immer drin versteckt und bin wie ein Schachtelmännchen draus hervorgehüpft, um meine Schwestern zu erschrecken (ja, tut mir leid, aber so ein Junge war ich eben. Hättest Du Dir nicht gedacht, oder?).
Helen musste laut lachen. Sie saß im Bett und las den Brief im Licht ihrer Stirnlampe. Luke hatte ihr kaum den Umschlag in die Hand gedrückt, da hatte sie Dan und Bill und dem Trubel auf der Hauptstraße den Rücken gekehrt undwar voller Freude zur Hütte gefahren. Er hatte geschrieben – endlich.
Sie hatte es lange hinausgezögert, den Brief zu öffnen, hatte die Vorfreude wie ein Kind genossen, das die Geschenke unter dem Weihnachtsbaum liegen sieht. Schließlich hatte sie ihn auf das Kissen gelegt und ihr übliches Abendritual vollzogen. Sie hatte den widerstrebenden Buzz zum Pinkeln noch mal in den Regen hinausgeschoben, die Zähne geputzt und dann Teewasser aufgesetzt. Anschließend hatte sie sich ausgezogen, das riesige T-Shirt zum Schlafen übergestreift, die Laternen gelöscht und war mit Brief, Tee und Stirnlampe ins Bett gekrochen. Sie überlegte noch kurz, ob sie eine von Joels Opern-CDs auflegen sollte,
Tosca
vielleicht, beschloss dann aber, ihr Glück nicht zu erzwingen.
Sie nahm einen Schluck Tee und lenkte den Strahl der Stirnlampe auf Buzz, der zusammengerollt vor dem Ofen lag und schon schlief. Eingemummelt in ihren Schlafsack, mit dem Kissen im Rücken an die Hüttenwand gelehnt, saß Helen einen Augenblick da, lauschte dem Regen, der aufs Hüttendach trommelte, und fühlte sich rundum glücklich.
Hier draußen gebt es ziemlich verrückt zu, und es wird von Tag zu Tag verrückter. Achtzig Meilen von uns entfernt hat die A. C.L. mit einer erneuten Aktion ethnischer Säuberung begonnen, und jeden Tag kommen über tausend Flüchtlinge, die alle in ziemlich schlechter Verfassung sind. Sie haben Typhus, Malaria und so ziemlich alles, was man an tropischen Krankheiten haben kann – aber zum Glück noch keine Cholera.
Und natürlich gibt es nicht annähernd genug Medikamente oder Lebensmittel. Einige Kinder, die es bis hierher geschafft haben (und Hunderte, vielleicht sogar Tausende schaffen es nicht), haben seit Wochen nichts mehr gegessen.
Sie sind voller Fliegen, und ihre Arme und Beine sehen aus wie dünne Stöckchen. Einfach entsetzlich. Mich erstaunt nur, dass einige von ihnen noch lächeln können. Letzte Nacht herrschte große Aufregung im alten Garten des Hospitals, wo die meisten freiwilligen Helfer wohnen. Die
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