Im Kreis des Wolfs
Zahnstocher.«
Während Luke zurückwich, behielt sie den Bären im Auge. Sie hatte schon oft einen Bären gesehen, doch nie zuvor einen Grizzly.
Ursus arctos horribilis
lautete der lateinische Name, und im Augenblick fand sie, dass er recht gut zu ihm passte. Seine Klauen sahen wie Küchenmesser aus. Hell und gebogen. Sie konnte kaum den Blick davon lösen.
Was zu tun war, wenn man einem
Horribilis
von Angesichtzu Angesicht gegenüberstand, nun, da gab es widersprüchliche Ratschläge: sich hinlegen und tot stellen oder laut schreien und versuchen, ihn zu verscheuchen; reglos stehenbleiben oder sich zusammenrollen; langsam zurückweichen und dabei ruhig auf ihn einreden; auf einen Baum klettern; nicht auf einen Baum klettern. Nur in einem waren sich die Biologen einig, dass nämlich eine Flucht die reinste Zeitverschwendung war. Ein Grizzly brachte es auf sechzig Stundenkilometer. Deshalb, hatte Dan gesagt, sei es das Beste, wenn sie stets das Pfefferspray dabei habe. Aber das befand sich nun mal in der Hütte.
Langsam und möglichst leise, den Bären aus den Augenwinkeln beobachtend, begann sie, ihre Utensilien in den Rucksack zu packen.
Der Bär ließ sich wieder auf alle viere fallen und lief in gemächlichem, schaukelndem Schritt einige Meter nach links, während der plumpe Schädel wie bei einem betrunkenen Matrosen von einer Seite zur anderen schwang. Dann machte er kehrt und lief denselben Weg zurück, schaute Helen an, wandte den Blick wieder ab und streckte immer wieder seine Nase in die Luft, als werde er nicht ganz schlau aus ihr.
Sie konnte den dunklen Höcker seiner Schultern und die Nackenhaare sehen, die sich langsam aufstellten, ein Anblick, bei dem sie panische Angst ergriff. Plötzlich schämte sie sich für ihr elendes Selbstmitleid in der letzten Zeit, für all die Male, als sie sich gewünscht hatte, tot zu sein. Vielleicht hatten ihre Gedanken diese Nemesis heraufbeschworen, um sie zu erlösen. Aber sie war noch nicht bereit. Plötzlich wurde ihr so klar wie nie zuvor, dass sie leben wollte.
Sie blickte auf den kleinen Bären zu ihren Füßen. Er war immer noch bewusstlos. Dann fragte sie sich, ob Luke schon den Pick-up erreicht hatte und warum zum Teufel sie nichtmit ihm gegangen war. Weshalb riskierte sie ihr Leben für ein Geschöpf, das ihr ohne Skrupel den Kopf abbeißen würde, wenn es dazu Gelegenheit hätte?
Jetzt hörte sie hinter sich den Wagen und sah, wie der große Grizzly ihn entdeckte. Er hielt inne, wirkte aber keineswegs eingeschüchtert, sondern höchstens ein wenig irritiert. Sie überlegte, was sie tun sollten, wenn Luke da war. Sie mussten versuchen, den kleinen Bären auf die Ladefläche zu hieven, und beten, dass der große Grizzly sie gewähren ließ.
Dem Geräusch nach zu urteilen, kam der Pick-up näher. Sie hörte Buzz bellen und dann Luke, der ihm befahl, ruhig zu sein. Der große Bär beobachtete all dies aufmerksam, doch seinen eng angelegten Ohren nach zu urteilen, schien er nicht allzu viel davon zu halten. Helen wusste, dass dies kein gutes Zeichen war.
Langsam wandte sie den Kopf und sah, wie Luke vorsichtig aus dem Wagen stieg. Er ließ den Motor laufen. Buzz saß im Auto, die Vorderpfoten auf dem Armaturenbrett, und bellte, als ginge es um sein Leben. Als Luke auf Helen zukam, streifte sie sich gerade beide Trageriemen des Rucksacks über eine Schulter.
»Schnell, tragen wir das kleine Monster zum Wagen«, sagte Helen.
Sie packten den Bären jeweils an einem Ende und hoben ihn hoch; er wog an die dreißig Kilo. Unterdessen behielten sie den ausgewachsenen Bären im Auge, und der ließ plötzlich ein lautes, trockenes Bellen hören, dann noch eins. Der Schädel schwang aufgeregt hin und her.
»Das sieht nicht gut aus.«
»Das h-h-heißt, dass er uns g-g-gleich angreift.«
»Wenn er kommt, lassen wir den Kleinen hier fallen und verschwinden im Laster, okay?«
»Okay.«
Plötzlich machte der große Grizzly ein lautes, knirschendes Geräusch mit den Zähnen. »Er k-k-kommt!«
Helen drehte sich um und sah, wie der Bär den Hang hinunter auf sie zupreschte. Im selben Augenblick rutschte ihr der Rucksack von der Schulter, und als sie ihn wieder hochziehen wollte, glitt ihr der kleine Bär aus den Händen.
»Scheiße!«
Sie ließ den Rucksack fallen, griff nach dem kleinen Bären und blickte über die Schulter auf den Angreifer. Der Hang war dicht mit Gebüsch und jungen Bäumen bewachsen, aber der Grizzly brach durchs Unterholz wie ein
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