Im Kreis des Wolfs
Löcher in Lukes Jeans reißen und ihm ein Stück vom Stiefel herausbeißen konnte.
Helen nahm an, dass sie weit genug von den ausgewachsenen Tieren entfernt waren, so dass der Kleine eine gute Überlebenschance hatte. Mit etwas Glück würde er seine Mutter wiederfinden. Helen hielt an, und ohne weitere Umstände warfen sie den Kleinen durch die fehlende Tür aus dem Wagen. Und während der ans Steuer gebundene Buzz noch wie verrückt bellte, schauten Luke und Helen dem kleinen Bären nach, der missmutig im Gebüsch verschwand.
»Bitte, gern geschehen!«, rief Helen ihm nach.
Sie legte eine Hand auf Lukes Schulter und stützte sich auf ihn. Er schüttelte grinsend den Kopf.
»V-V-Vielleicht sollten wir doch lieber bei den Wölfen bleiben.«
An diesem Abend begann es zu schneien. Da es windstill war, fiel der Schnee in schweren Flocken herab und blieb auf der Fensterbank liegen, während Helen und Luke drinnen kochten, aßen und lachend die Ereignisse des Tages rekapitulierten.
Nach dem Essen zogen sie sich warm an und fuhren, ehe Luke nach Hause ritt, mit dem Schneemobil hoch hinauf in den Wald. Die Schneeflocken wirbelten im Licht derScheinwerfer durch die Luft. Luke saß hinter ihr und hielt sich fest, indem er – ganz vorschriftsmäßig – die Arme um sie schlang. Helen fand es angenehm, so gehalten zu werden. Sie fuhren dorthin, wo sie die Wölfe vermuteten. Als sie anhielten, hörte es auf zu schneien. Die Wolken rissen auf, und die schmale Sichel des Mondes trat hervor.
Helen stellte den Motor ab. Eine Weile standen sie einfach nur da und lauschten auf das gedämpfte Schweigen des Waldes.
Dann nahmen sie die Taschenlampe und den Empfänger und gingen mit knirschenden Schritten über den Schnee.
Sie spürten die Signale sofort auf, da sie laut und vernehmlich in der kristallklaren Luft klickten, und wussten, dass die Wölfe sich in unmittelbarer Nähe befanden. Im Strahl ihrer Taschenlampe entdeckten sie noch ganz frische Spuren.
Helen knipste die Lampe aus, und sie blieben reglos stehen, um zu lauschen. Nur hin und wieder war der Schnee zu hören, der manchmal von den Bäumen fiel.
»Heulen Sie«, flüsterte Helen.
Er hatte einige Male gehört, wie sie das Heulen eines Wolfs imitiert hatte, erfolglos übrigens, hatte es aber nie selbst versucht. Er schüttelte den Kopf.
»Versuchen Sie es«, sagte sie leise.
»Ich k-k-kann nicht. Da k-k-kommt nichts …«
Er deutete auf seinen Mund, und Helen begriff, dass er Angst hatte, seine Stimme würde ihn im Stich lassen.
»Ich bin’s doch nur, Luke.«
Er schaute sie lange an. Und sie sah in seinen traurigen Augen, was er für sie empfand, doch das wusste sie längst. Sie zog einen Handschuh aus und berührte lächelnd sein kaltes Gesicht. Sie fühlte, wie er unter ihrer Berührung zusammenzuckte. Und als sie die Hand wieder wegzog, legteer den Kopf in den Nacken und stieß ein langes, klagendes Heulen aus.
Und noch ehe es verklungen war, wehte über die schneebedeckten Wipfel der Bäume des Cañons die Antwort der Wölfe herüber.
WINTER
24
Niemand bemerkte die Rückkehr des Wolfsjägers nach Hope.
In der Nacht vor Thanksgiving, als der geräumte Schnee aufgetürmt an den Straßenrändern lag und das Salz auf dem Asphalt glitzerte, glitt sein silberner Trailer wie ein Geisterschiff in die Stadt.
J. J. Lovelace saß allein in dem alten, grauen Chevy, mit dem er stets fuhr, wenn er mit dem Trailer unterwegs war. Als er zur Kreuzung an der alten Schule kam, stellte er die Scheinwerfer aus und ließ den Wagen langsam ausrollen.
Hinter den Bäumen auf der anderen Straßenseite befand sich der Friedhof, auf dem seine Mutter lag, die er nie kennengelernt hatte. Doch Lovelace sah nicht hinüber, dachte nicht einmal daran. Stattdessen schaute er mit zusammengekniffenen Augen die dunkle Hauptstraße entlang und registrierte zufrieden, dass kein Mensch zu sehen war. Er fuhr an, ließ die Kreuzung hinter sich und rollte mit Standlicht durch die Stadt.
Sie sah ganz so aus, wie er sie in Erinnerung hatte. Die modernen Autos ausgenommen, deren Windschutzscheiben zum Schutz vor dem Frost abgedeckt waren. Manche Namen über den Schaufenstern der Geschäfte hatten sich geändert, an der Tankstelle standen neue Säulen, und an einem Drahtseil über der Straße schwankte eine neue Ampel im Wind, deren rotes Licht verloren in der Dunkelheit leuchtete.
Lovelace hegte keine besonderen Gefühle für Hope. Und keine Erinnerungen, weder gute noch schlechte,
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