Im Kreis des Wolfs
um die letzte Kurve bogen, sahen sie, wie sich das Gebüsch an der Weggabelung heftig bewegte. Sie legten ihre Rucksäcke ab, doch erst als Helen den Stock mit der Spritze vorbereitete, nahm sie einen seltsamen, schalen Geruch wahr, etwa wie nasses Hundefell, nur viel stärker. Auch das Schreien klang seltsam, ganz anders als die Laute, die sie von gefangenen Wölfen kannte. Und als sie, während Luke sich im Hintergrund hielt, vorsichtig durch die Büsche starrte, fand sie auch heraus, warum.
»O je«, sagte sie leise.
»Was ist?«
»Luke, wir sind doch hinter
Wölfen
her. Das hier ist ein Bär.«
Es war ein Jungtier, ein männlicher Grizzly, etwa acht oder neun Monate alt. Helen klemmte die Spritze an ihren Stock und drückte etwas von dem Beruhigungsmittel heraus, um Luftbläschen zu beseitigen.
»W-W-Wollen Sie ihn betäuben?«
»Tja, wir müssen sein Bein aus der Falle befreien. Er ist schon ein wenig übers Knuddelalter hinaus, meinen Sie nicht? Sehen Sie die Zähne und diese Klauen? Das ist kein Teddybär mehr. Wir müssen uns beeilen. Wahrscheinlich ist seine Mutter in der Nähe.«
In dem Versuch, sich zu befreien, hatte sich der kleine Bär mit der Ankerkette im Gebüsch verheddert, so dass ihm nicht mehr viel Bewegungsfreiheit blieb. Während Luke ihn ablenkte, gelang es Helen, hinter ihn zu schlüpfen und ihm die Spritze ins Hinterteil zu stoßen. Er schrie auf und fuhr zu ihr herum, doch da war das Beruhigungsmittel schon in seinem Körper.
Sie traten einige Schritte zurück und warteten darauf, dass das Medikament wirkte. Helen wusste, dass sie denBären eigentlich wiegen und messen und all den Untersuchungen unterziehen sollte, die sie sonst an ihren Wölfen vornahm, um die Daten dann an jene Gruppe von Fish & Wildlife weiterzuleiten, die sich mit Grizzlys beschäftigte. Da aber möglicherweise die Mutter des kleinen Bären nicht weit war, sich im Augenblick vielleicht sogar überlegte, wer von ihnen beiden besser schmeckte, wollte Helen nicht allzu viel Zeit vergeuden.
»Wollen w-w-wir ihn untersuchen?«
»Wenn Sie wollen. Aber ich bin hier weg, sobald die Falle von seinem Bein ist.«
Das Knurren des kleinen Bären klang jetzt schläfrig. Als er sich hinlegte, knieten sie neben ihm nieder. Helen rümpfte die Nase.
»Er sollte mal sein Deodorant wechseln.«
»Ja, meine Mutter sagt immer, die stinken wie Küchenabfall.«
Helen hebelte die Falle auf. Sein Bein blutete. Beim Herumzerren hatten sich die Bügel ins Fleisch gegraben. Luke wusste, was zu tun war, und reichte ihr zuerst ein Tuch, um die Wunde zu reinigen, und dann die antibiotische Salbe, um das Bein damit einzureiben.
»Ich gebe ihm lieber noch eine Spritze.«
Als Luke ihr die Spritze reichte, knackte irgendwo unter den Bäumen am Hang ein Ast. Sie erstarrten, sahen sich um und lauschten. Alles war still.
»Verschwinden wir«, flüsterte Helen. Rasch lud sie die Spritze und verabreichte dem kleinen Bären ein Antibiotikum. Dann reichte sie Luke die Spritze und sah noch einmal nach dem Bein. Es blutete nicht mehr. Doch als sie sich erneut zu Luke umwandte, bemerkte sie, dass sich sein Gesichtsausdruck verändert hatte. Er schaute hinauf in den Wald, und als sie seinem Blick folgte, entdeckte sie einenausgewachsenen Grizzlybären, der sie unverwandt anstarrte. Er stand kaum zehn Meter von ihnen entfernt.
»Das ist nicht seine M-M-Mutter.«
»Stimmt. Der ist zu groß.«
Sie verhielten sich völlig still und murmelten, fast ohne die Lippen zu bewegen.
»Wenn wir den Kleinen liegenlassen, b-b-bringt er ihn um.«
Helen wusste, dass Luke recht hatte. Männliche Grizzlys töten alle männlichen Jungbären, die ihnen über den Weg laufen, sogar die eigenen. Langsam hob der Bär die vorderen Tatzen vom Boden und stellte sich dann auf die Hinterbeine. Er maß gut drei Meter, sah aber aus, als sei er zehn Meter groß und wiege um die vierhundert Kilo. Sein Fell war hell, gelblichbraun, an Ohren und Kehle aber dunkler, dort, wo das Haar silbrige Spitzen aufwies. Er streckte die Schnauze witternd in die Luft.
Helens Puls jagte. Sie dachte an das Pfefferspray, das Dan ihr für eine solche Begegnung gegeben hatte. Es verstaubte in einer Ecke der Hütte.
»Lassen Sie uns zum Auto gehen, Luke.«
»G-G-Gehen Sie ruhig. Ich bleibe bei dem K-K-Kleinen.«
»Hören Sie, ich bin hier der Held, und jetzt gehen Sie, aber langsam, ganz langsam.«
Er gab ihr den Stock mit der leeren Spritze.
»Danke, den schenk ich ihm als
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