Im Kreis des Wolfs
Vormittagsprogrammen wieder auftauchen. Sie sah Frauen ihre Ehemänner, die sie betrogen hatten, anschreien, sah Töchter,die ihren Müttern vorwarfen, ihre Kleider oder ihre Freunde zu stehlen. Schockiert stellte sie manchmal fest, wie sie in das Geschrei mit einstimmte.
Als sie das Fernsehen leid war, begann sie zu trinken, doch irgendwie gab ihr das nicht den richtigen Kick. Sämtliche Schnäpse, die sie probierte, schmeckten grauenhaft, selbst wenn sie sie mit reichlich Orangen- oder Tomatensaft vermischte. Der Alkohol ließ sie vergessen – doch nur die falschen Dinge. Sie fuhr den langen Weg nach Helena oder Great Falls, nur um dann festzustellen, dass sie nicht wusste, was sie dort sollte. Sie trank so überaus diskret, dass niemand Verdacht schöpfte, selbst dann nicht, wenn Brot oder Milch ausgingen, sie an zwei Abenden hintereinander das gleiche Essen auftischte oder einmal sogar das Abendessen ganz vergaß. Schließlich sah sie ein, dass sie sich nicht zur Alkoholikerin eignete, und hörte einfach damit auf.
Luke litt am stärksten unter ihrer Verschlossenheit. Ihm fiel auf, wie oft sie vergaß, zu ihm zu kommen und ihm einen Gutenachtkuss zu geben, und wie selten sie ihn in letzter Zeit umarmte. Sie nahm ihn zwar immer noch vor der Wut seines Vaters in Schutz, doch lustlos und ohne Eifer, als wäre es eine Pflicht, deren Sinn sie vergessen hatte.
Und so blieb unbemerkt, welche Schuldgefühle der Junge entwickelte.
Am Tag ihres Todes waren Bruder und Großvater unterwegs gewesen, ihn von seinem Sprachtherapeuten in Helena abzuholen. Und für die Logik eines Siebenjährigen war der Unfall allein schon deshalb seine Schuld. Mit einem Streich hatte er den Vater seines Vaters und dessen Lieblingskind getötet, den alten König und den Thronfolger der Calders.
In der Tat eine unglaubliche Last für einen kleinen Jungen.
4
Die rot-weiße Cessna 185 legte sich unter der kobaltblauen Kuppel des frühen Morgenhimmels in eine steile Kurve, ehe sie dann einen Augenblick, gleichsam gewichtslos, über den Gipfeln der Berge zu schweben schien. Während er den Flügel an der Steuerbordseite in die Sonne kippte und die Nase zum zwanzigsten Mal nach Osten ausrichtete, schaute Dan unmittelbar auf den Flugzeugschatten hinab, der in dreihundert Meter Tiefe wie der Geist eines Adlers über die uralten Kalksteinhänge huschte und aus seinem Blick verschwand.
Bill Rimmer saß neben ihm im engen Cockpit, den Empfänger auf dem Schoß, und ging methodisch immer wieder die Liste mit den Frequenzen aller markierten Wölfe durch, die es zwischen Kanada und Yellowstone gab. Auf beiden Flügeln des Flugzeugs war eine Antenne befestigt, und Bill schaltete ständig zwischen ihnen hin und her, während sie angestrengt auf das unverkennbare Klick-Klick-Klick eines Signals lauschten. Sie hatten gutes Flugwetter und wären wohl noch tiefer gegangen, wenn sie etwas mehr Wind gehabt hätten.
Es war nicht besonders einfach, in dieser Gegend nach Wölfen Ausschau zu halten. Den ganzen Morgen lang hatten sie die Hügel und Cañons durchkämmt, Augen und Ohren angestrengt, in die schattigen Schluchten zwischen den Bäumen gespäht und Bergkämme, Bäche und sanfte grüne Wiesen nach verräterischen Spuren abgesucht: einem Kadaver auf einer Lichtung, einem Schwarm Raben oder plötzlich flüchtenden Rehen. Wild hatten sie genug gesehen, Weiß- wie Schwarzwedelhirsche und sogar Elche. Als sie einmal dicht über eine weite Schlucht flogen, störten sie eine Grizzlybärin auf, die sich mit ihren Jungen an Buffalobeeren gütlich tat und erschreckt in den Schutz des Waldesflüchtete. Hier und da sahen sie auch etwas Vieh, das auf jenen Sommeralmen graste, die viele Rancher von der Forstverwaltung, dem Forest Service, pachteten. Doch einen Wolf oder gar mehrere Wölfe konnten sie nicht entdecken.
Rimmer hatte Dan am Abend zuvor zu seinem Wagen nach Hope gefahren, und sie hatten im Last Resort noch ein Bier getrunken. Die Kneipe war ein düsteres Loch, die Wände voller Jagdtrophäen, deren blinde Augen jede ihrer Bewegungen zu beobachten schienen, als sie sich mit ihren Gläsern an einen Tisch in der Ecke setzten. Am anderen Ende der Bar spielten zwei Rancharbeiter Billard und fütterten die Jukebox mit ihren Münzen, doch die Musik musste gegen das Fußballspiel im Fernseher über der Theke ankämpfen. Ein einsamer Säufer mit schweißfleckigem Hut erklärte der Frau hinter dem Tresen die Einzelheiten seines Tagesablaufs. Sie gab sich Mühe,
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