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Im Kreis des Wolfs

Im Kreis des Wolfs

Titel: Im Kreis des Wolfs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicholas Evans
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ihn dabei oft würgte.
    Um Anerkennung bei seinem Vater zu finden, war er sogar mit ihm auf die Jagd gegangen, hatte aber nur das Gegenteil erreicht.
    Sechs Jahre nach dem Tod seines Bruders hatte ihn sein Vater gefragt, ob er nicht versuchen wolle, seinen ersten Elch zu schießen. Luke war dreizehn. Er hatte dieser Aufforderung mit Angst entgegengesehen und war doch zugleich enttäuscht gewesen, weil sie so lange ausgeblieben war.
    Zu zweit brachen sie vor dem Morgengrauen auf. Ein fahlerNovembermond erhellte den Atem der Pferde und warf ihre Schatten auf den glitzernden Schnee. Eine Stunde später waren sie oben im Wald, hockten stumm auf ihren Pferden und schauten von einer schroffen Felsspitze hinunter ins Tal, während die Sonne über dem Rand des Horizonts aufging und die verschneiten Ebenen in ein rosafarbenes Meer verwandelte.
    Sein Vater wusste stets, wo sich Elche befanden. Es war derselbe Ort, an dem Henry seinen ersten Bullen geschossen hatte, ein verborgener Cañon, in dem eine Herde bei dichtem Schnee Schutz und Futter suchte. Luke war schon so manches Mal hier gewesen, um die Tiere zu beobachten, doch noch nie, um sie zu töten.
    Sie banden die Pferde fest, gingen den letzten Kilometer zu Fuß. Der Schnee war frisch und weich wie Puder und nicht zu tief, um sie ernstlich zu behindern, auch wenn hin und wieder einer von ihnen bis zur Hüfte in einer Wehe versank. Sie sprachen fast kein Wort, und wenn doch, dann nur flüsternd. Bis auf ihren Atem und das Knirschen der Stiefel im Schnee war es still im Wald. Lukes Herz hämmerte, und wie ein Dummkopf betete er zu Gott, dass sein Vater es nicht bemerken möge, und betete wie ein noch größerer Dummkopf, dass die Elche sein Herzklopfen hörten, flohen und sich retteten.
    Sein Vater trug das Gewehr. Normalerweise jagte er mit der Springfield, Kaliber 30-06, oder mit der .300er Magnum, die er sich letzten Herbst gekauft hatte. Doch heute hatte er die .270er Winchester dabei, dieselbe Waffe, mit der Henry vor sechs Jahren seinen ersten Elch erlegt hatte. Ihr Rückstoß war nicht so stark wie der von anderen Gewehren, und beim Probeschießen vor ein paar Tagen hatte Luke die Schießscheibe immer getroffen. Sein Vater war begeistert gewesen.
    »Du schießt ja fast so verdammt gut wie dein Bruder«, sagte er.
    Es dauerte über eine Stunde, bis sie den Rand des Cañons erreichten. Sie krochen in die geschützte Mulde unter einer alten Kiefer und starrten durch die Lücke zwischen den untersten Zweigen und der ringförmigen Schneedrift um den Baum in den Cañon. Sein Vater reichte ihm das Fernglas.
    Die Elche hatten sein Herzklopfen nicht gehört. Auf der anderen Seite des Cañons standen etwa zwanzig Kühe. Ein wenig abseits knabberte ein einsamer Bulle, ein Fünfender, an der Borke einer Zitterpappel. Er stand keine siebzig Meter entfernt. Luke gab seinem Vater das Fernglas zurück und fragte sich, ob er den Mut aufbrachte, ihm zu sagen, dass er nicht schießen wollte. Doch er wusste, selbst wenn er es versuchen sollte, er würde die Worte nie über die Lippen bringen, ihre Wirkung wäre einfach zu katastrophal.
    »Kein Sechsender wie bei Henry, aber der tut’s auch«, flüsterte sein Vater.
    »V-V-Vielleicht sollten w-w-wir lieber w-w-warten, bis ein S-S-Sechsender auftaucht.«
    »Bist du verrückt? Das ist doch ein prächtiges Tier. Hier.«
    Er reichte ihm vorsichtig das Gewehr. Luke wusste, das seine einzige Berührung des Astgewirrs über seinem Kopf einen Schneeschauer auslösen und die Elche vielleicht vertreiben würde. Er spielte mit dem Gedanken.
    »Lass dir Zeit, Junge. Immer langsam.«
    Sein Vater half ihm, den Lauf durch die Lücke zu schieben. In der Mulde unter dem Baum roch es stark nach Harz, und Luke wunderte sich, dass ihm davon übel wurde. Er presste den Kolben an seine Schulter.
    »Mach’s dir jetzt bequem. Such dir eine gute Stelle für deine Ellbogen. Passt’s? Okay?«
    Luke nickte und presste sein Auge ans Zielfernrohr. DieGummimanschette fühlte sich klamm an. Einen Moment lang sah er nur eine Reihe schneebedeckter Bäume und den grauen Fels der Schluchtwände.
    »Ich f-f-find ihn nicht.«
    »Siehst du die Schneewehe da? Die Kühe stehen direkt drunter. Hast du sie gefunden?«
    »Nein.«
    »Ist okay, lass dir Zeit. Er steht rechts neben den Kühen.«
    Jetzt sah er sie. Sie fraßen Moos von der Rinde umgestürzter Bäume. Er konnte deutlich ihre Augen erkennen, wenn sie kauend den Kopf hoben. Das Fadenkreuz bewegte sich von einem Tier

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