Im Kreis des Wolfs
Alptraum erinnerte, den er als Kind einmal gehabt hatte. Damals lag er mit einer seiner regelmäßig wiederkehrenden Mandelentzündungen im Bett, und im Fieber träumte er, dass das Ticken der Uhren eigentlich das Säbelgerassel einer Bande blutrünstiger Piraten sei, die die Treppe hinauf in sein Zimmer stürmten.
Diese Uhren waren schon vor mehr als zehn Jahren verstummt. Ob dies symbolische Bedeutung hatte oder einfach nur auf Nachlässigkeit zurückzuführen war, wagte niemand zu fragen. Seit Henrys Tod hatte seine Mutter die Uhren nie wieder aufgezogen. Und da sie ihr gehörten und vielleicht eine nur ihr bekannte Rolle in ihrer Trauer spielten, wagte niemand, sie zu berühren. Verstaubt zeigten sie die Zeit ihres jeweiligen Stillstands an.
Es gab einen anderen Wandschmuck, sowohl hier als auch sonst im Haus, der, für Luke wenigstens, noch größere Bedeutung hatte, und das waren die Schädel der von vier Generationen erlegten Tiere. Alle Calders waren ausgezeichnete Schützen gewesen; sein Bruder hatte den ersten Elch mit zehn Jahren erlegt, was zwar verboten war, aber seinen Vater mit großem Stolz erfüllte. Der Schädel hing über der Küchentür, und es war eines von Henrys Lieblingskunststücken gewesen, seinen Hut aus sechs Meter Entfernung quer durchs Zimmer dem Geweih auf die Hörner zu werfen. Und dort oben hing der Hut noch immer.
Als Kind hatte Luke diese Trophäen unheimlich gefunden. Als er vier Jahre alt war, vertraute ihm sein Bruder an, dass die Tiere eigentlich gar nicht tot waren und Hirn und Augen noch funktionierten, auch wenn sie sich sonst nicht bewegen konnten.
Fast ein Jahr lang glaubte Luke, jede seiner Bewegungen werde beobachtet, jede seiner Taten beurteilt. Der wichtigste Schädel, so sagte sein Bruder, sei der von dem riesigen Elch, den ihr Großvater geschossen hatte und der an dem Ehrenplatz am Fuß der Treppe hing.
»Wenn die anderen sehen, dass du etwas Böses tust, erzählen sie es dem alten Elch«, hatte Henry geflüstert. »Und der Elch merkt sich all diese bösen Dinge; und wenn du zu viele böse Dinge getan hast, dann kommt er und holt dich.«
»Wie v-v-v-vi …«
»Du meinst, wie viele böse Dinge du tun darfst?«
Luke nickte.
»Ich weiß nicht, Lukey, da bin ich mir nicht sicher. Aber ich kann dir sagen, als ich Moms alte Uhr kaputtgemacht habe, da ist er mitten in der Nacht in mein Zimmer gekommen. Junge, hat der mir vielleicht eine mächtige Tracht Prügel verpasst.«
»W-w-w-womit denn?«
»Mit diesen großen Geweihschaufeln. Hat er wie ein Paddel benutzt. Und ich sag dir, die tun teuflisch weh, viel schlimmer als Daddys Gürtel. Eine ganze Woche konnte ich nicht sitzen.«
Wenn er zu Bett ging, legte Luke jeden Abend vor dem großen Elch eine Beichte ab und sagte, dass ihm leid tue, was er an diesem Tag falsch gemacht habe. Zur Liste, die er dann aufsagte, gehörte meist auch, dass er beim Essen auf Fragen seines Vaters stotternd geantwortet hatte, weshalb es wieder einmal zu einem Familienkrach gekommen war. Und selbst nachdem seine Mutter ihn eines Abends dabei ertappt hatte und ihm versicherte, dass dies nicht wahr sei und Henry eine weitere Tracht Prügel von seinem Vater erhielt, dauerte es lange, bis Luke wieder guten Gewissens unter dem Elch hindurchlaufen oder sich in einem Zimmer,in dem Tierschädel an der Wand hingen, aufhalten konnte, ohne sich beobachtet zu fühlen.
Dabei hatte er eigentlich keine Angst vor ihnen. Er hatte sich noch nie vor Tieren gefürchtet, denn seiner Erfahrung nach war es einfacher, sich mit ihnen als mit Menschen anzufreunden. Die Hunde, Katzen und Pferde, selbst die Kälbchen schienen lieber zu ihm als zu anderen kommen zu wollen. Als er zu stottern begann, konnte er dies umgehen, wenn er durch Mo redete, eine alte Handpuppe, die früher einmal wie ein Fuchs ausgesehen haben mochte, inzwischen aber so ramponiert war, dass sie überhaupt kein bestimmbares Aussehen mehr hatte. Durch Mos Mund sprach er so fließend mit Leuten wie sonst nur zu Tieren. Doch seinen Vater machte Mo verrückt, und so wurde die Puppe in einen Schrank verbannt.
Eine Ranch war nicht gerade das ideale Zuhause für ein so sensibles Kind wie Luke, doch hatte er stets sein Bestes getan, seine Gefühle zu verbergen. Er half bei den Arbeiten, die ihm zuwider waren, drückte Kälber zu Boden, wenn sie ihr Brandzeichen bekamen, wenn ihnen die Hoden abgeschnitten wurden und ihm vom Geruch verbrannten Fleisches übel wurde. Und er aß Fleisch, obwohl es
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