Im Kreis des Wolfs
Hast ihn am Hals erwischt.«
Luke spürte, wie sich seine Kehle zuschnürte. Der Elch schrie jetzt erbärmlich, und das Echo in der Schlucht war so schrecklich, dass er sich zwingen musste, sich nicht die Ohren zuzuhalten.
»Komm schon, Luke. Du musst die Sache zu Ende bringen. Sei vorsichtig, hier ist es ziemlich steil.«
Luke ging zur Felskante, und es kümmerte ihn nicht, ob er abstürzte, ja er wünschte es sich sogar, fürchtete er doch bei jedem Schritt, was er gleich zu sehen bekommen würde. Dann stand er neben seinem Vater und schaute hinunter. Der Boden fiel steil ab zu einem Geröllfeld. Etwa auf halber Höhe stand ein abgestorbener Baum, der den Sturz des Elchs gebremst hatte; und dort lag er nun, eingeklemmt, und sah zu ihnen hinauf, während seine Hinterläufe hilflos in der Luft zappelten. Im Hals klaffte ein dunkles Loch, und Brust und Schulterblätter waren nass von Blut.
Sein Vater schob eine weitere Kugel in den Lauf und reichte ihm das Gewehr.
»Auf geht’s, mein Sohn. Du weißt, was zu tun ist.«
Luke nahm die Waffe, doch dann fühlte er, wie seine Lippen zu zittern begannen, wie ihm die Tränen in die Augen traten; er versuchte, dagegen anzukämpfen, schaffte es aber nicht, und sein ganzer Körper bebte.
»Ich k-k-kann nicht.«
Sein Vater legte einen Arm um seine Schultern.
»Ist schon gut, Sohn. Ich weiß, wie du dich fühlst.«
Luke schüttelte den Kopf. Das war das Dümmste, was erje gehört hatte. Wie konnte irgend jemand wissen, wie er sich fühlte? Schon gar nicht sein Vater.
»Aber du musst es tun. Er gehört dir nicht, wenn du es nicht tust.«
»Ich w-w-will ihn nicht!«
»Komm schon, Luke, er leidet …«
»Glaubst du, das w-w-weiß ich nicht?«
»Dann bring’s zu Ende.«
»Ich kann nicht.«
»Natürlich kannst du.«
»M-M-M-Mach du!« Er gab ihm das Gewehr.
»Ein Jäger führt zu Ende, was er angefangen hat.«
»Ich b-b-bin kein g-g-gottverdammter Jäger!«
Sein Vater schaute lange auf ihn herab. Luke hatte zum ersten Mal in seiner Gegenwart geflucht. Und dann, wohl eher traurig als wütend, schüttelte sein Vater den Kopf und nahm das Gewehr.
»Nein, Luke, ich glaube, das bist du wirklich nicht.«
Sein Vater schoss dem Elch ins Herz, und sie sahen zu, wie die Läufe zuckten, als wolle die Seele in ein weit entferntes Land entfliehen. Und ohne den Blick von ihnen abzuwenden, erstarrte der Elch, stieß einen langen, gurgelnden Seufzer aus und lag endlich still.
Doch damit war es noch nicht vorüber.
Sie banden ein Seil um den Kadaver und zogen ihn vom Baum. Dann musste er seinem Vater helfen, den Elch zu häuten und auszuweiden. So waren nun mal die Regeln, erklärte sein Vater, als er den Bauch aufschlitzte, hineingriff, die Luftröhre durchtrennte und das dampfende Herz samt Leber und Lunge herausriss. Wenn man auf die Jagd ging, tat man das.
Dies sei ein heiliger Moment. Und dann sägten sie den Kopf ab und zerteilten das Fleisch in einzelne, tragbareStücke. Und Luke weinte währenddessen stumm vor sich hin, weinte über den Geruch des warmen Elchbluts auf seinen Händen, weinte über sich selbst und schämte sich.
Was sie nicht tragen konnten, hängten sie hoch in den Baum, damit es nicht von Kojoten oder einem Bären, der noch keinen Winterschlaf machte, gefressen wurde. Alles andere luden sie sich auf den Rücken. Und Luke schaute sich um, sah die Gedärme im blutgetränkten Schnee. Er sagte sich, wenn es tatsächlich so etwas wie eine Hölle gab, dann musste sie so aussehen, und er würde gewiss dort enden.
Der Schädel dieses Elchs wurde nicht zu den anderen an die Wand gehängt. Vielleicht verbot es seine Mutter, nachdem sie gehört hatte, was vorgefallen war; Luke sollte es jedenfalls nie erfahren. Doch selbst jetzt, nach fünf Jahren, tauchte er manchmal in seinen Träumen auf und starrte ihn an. Und dann erwachte er schweißgebadet.
10
Hope sah an diesem Morgen wie der Schauplatz eines außer Rand und Band geratenen Filmsets aus. Die ganze Hauptstraße war mit Kühen und Autos verstopft, mit Kindern, die aussahen, als wollten sie sich jeden Augenblick mit ihren Musikinstrumenten verprügeln, während über ihren Köpfen zwei junge Männer auf Leitern balancierten und versuchten, eine Schnur mit bunten Fähnchen über die Straße zu spannen. Die Stadt bereitete sich auf den alljährlichen Jahrmarkt und das Rodeo vor.
Eleanor Calder stand im Eingang zu Iversons Lebensmittelladen und schaute wie die anderen Leute auf der Straße zu.
Die
Weitere Kostenlose Bücher