Im Kreis des Wolfs
Kapelle der Highschool hatte den ganzen Vormittaggeübt, und als sie jetzt in der Mittagshitze über die Hauptstraße marschierte, war die Stimmung gereizt. Sie sollten »Sechsundsiebzig Posaunen« spielen, was nur als Witz gemeint sein konnte, da es bloß einen einzigen Posaunisten gab. Und ob der überleben würde, war auch nicht sicher, weil eine Kornettspielerin, bestimmt zweimal so groß wie er selbst, gerade gedroht hatte, ihn noch einen Kopf kürzer zu machen, sollte er sie ein weiteres Mal in den Rücken stoßen. Keiner achtete mehr auf die verzweifelten Bitten von Nancy Schaeffer, der Lehrerin, dafür schrien alle wild durcheinander, während die Kühe blöd glotzend um sie herumstanden.
Niemand schien zu wissen, was das Vieh hier eigentlich sollte. Entweder hatte jemand sich im Kalender vertan und war mit ihm auf dem Weg zum Markt, oder er hatte sich gerade diesen Augenblick ausgesucht, um es auf die Weide am anderen Ende der Stadt zu treiben. Wie auch immer, die Männer, die versuchten, die Flaggengirlande aufzuhängen, waren jedenfalls nicht sonderlich begeistert. Die Tiere brachten ihre Leitern ins Wanken, bis schließlich eine davon frontal gerammt wurde und der Mann sich in letzter Sekunde nur noch durch einen Sprung auf die Veranda von Nelly’s Diner retten konnte, von wo aus er dann zusah, wie die Fähnchen auf den Köpfen der Kühe landeten und zur Stadt hinausgetragen wurden.
Der alte Mr. Iverson kicherte und schüttelte den Kopf.
»Wird mit jedem Jahr schlimmer«, sagte er. »Selbst die Kapelle kann kein halbwegs anständiges Lied mehr spielen.«
»Ach, das werden sie schon hinkriegen«, erwiderte Eleanor. »Aber die Kühe haben hier nichts verloren.«
»Lärm genug machen sie jedenfalls.«
Eleanor lächelte. »Tja, ich sollte mich besser auf denHeimweg machen. Ein paar hungrige Männer wollen bald ihr Essen haben.«
Sie verabschiedete sich und ging mit ihren zwei Lebensmitteltüten zum Auto. Bis auf ein paar Nachzügler, die von zwei jungen Rancharbeitern auf Pferden angetrieben wurden, waren die Kühe verschwunden. Die jungen Männer, die Eleanor nicht kannte, mussten sich von Ladenbesitzern und einigen Autofahrern, deren Geduld erschöpft war, beschimpfen lassen. Die Probe der Musikkapelle schien beendet zu sein, und die Streithähne zerstreuten sich.
Eleanor verstaute die Einkäufe im Kofferraum, schloss die Heckklappe und machte sich Vorwürfe, weil sie zuviel eingekauft hatte. Wie die meisten ihrer Nachbarn fuhr sie gewöhnlich einmal die Woche zum großen Supermarkt nach Helena und holte bei Iversons nur die eine oder andere Kleinigkeit, die sie auf ihrer Liste vergessen hatte. Doch bei den seltenen Besuchen überkamen sie dann solche Schuldgefühle, dass sie schließlich alle möglichen Dinge kaufte, die sie eigentlich gar nicht brauchte. Sie war überzeugt, dass die Iversons, dieses bekümmert dreinblickende Ehepaar, dem der Laden seit Menschengedenken gehörte, dieses Phänomen kannten und entsprechende Mienen aufsetzten, sobald jemand zur Tür hereinkam. Und wahrscheinlich führten sie dann einen Freudentanz auf, wenn sie wieder allein waren.
Eleanor stieg in den Wagen und zuckte zusammen, als sie die Hitze des Sitzpolsters durch ihr Baumwollkleid spürte. Sie wollte schon den Motor anlassen, als sie das Schild »Zu verkaufen« sah, das immer noch im Fenster von Ruth Michaels’ Souvenirladen auf der anderen Straßenseite hing. Sie dachte erneut darüber nach, was Kathy gesagt hatte.
Es war vor etwa einem Monat gewesen, als sie den kleinenBuck gerade frisch gewindelt hatten. Kathy erzählte, dass das Paragon zum Verkauf stünde, und sie riet Eleanor zuzugreifen. Seit sie verheiratet war, schien es Kathys liebster Zeitvertreib zu sein, sich Projekte für ihre Mutter auszudenken. So hatte sie ihr schon dazu geraten, ein College zu gründen, ein Restaurant aufzumachen, in den Versandhandel einzusteigen oder mit Yoga zu beginnen. Diesmal war es eben Ruth Michaels’ Souvenirladen.
»Sei nicht dumm«, sagte Eleanor. »Ich habe keine Ahnung, wie man einen Laden führt, erst recht nicht, wie man Cappuccino macht.«
»Du hast doch immer Opa im Laden geholfen. Außerdem bräuchtest du gar nichts über Geschäftsführung zu wissen, weil Ruth eigentlich nicht aufhören will. Sie hat nur zuviel Schulden, und deshalb kann sie nicht weitermachen. Wenn du dich bei ihr einkaufst, könntest du sie den Laden führen lassen und selbst entscheiden, wieviel Energie du investieren
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