Im Kreis des Wolfs
zum nächsten, strich über ihre fahlen Bäuche, in denen die Kälber bereits Gestalt annahmen.
»Hast du ihn?«
»Ja.«
Der Bulle zerrte an der Rinde eines Schösslings, und als das Stück abriss, erbebte der Baum und bestäubte seinen Kopf und das Geweih mit Schnee. Durch das Fernrohr schien das Tier schockierend nah. Luke konnte fast die einzelnen Haare im dunklen Nacken zählen. Er sah die mahlenden Kiefer, die helleren Flecken um die schwarz glänzenden Augen, die gleichgültig die Kühe musterten, sah Tropfen geschmolzenen Schnees an seiner Nase hängen.
»Er sieht m-m-mir ein bisschen zu jung für eine eigene Herde aus. V-v-vielleicht ist noch ein g-g-größerer Bulle in der Nähe.«
»Verdammt, Luke, wenn du ihn nicht willst, nehme ich ihn.«
Eine Stimme in ihm drängte ihn, seinem Vater die Waffe zurückzugeben, doch die andere sagte, worum es in diesem Moment ging: Es war seine letzte Chance, sich in den Augen seines Vaters als Mann zu beweisen. Er musste diesem Tier das Leben nehmen, sollte sein eigenes noch Sinn haben.
Er atmete schnell. Sein Herz klopfte so heftig, dass er glaubte, es würde jeden Moment zerspringen – und fast wünschte er sich, es wäre so. Er fühlte das Blut an der Stelle im Gesicht pulsieren, wo sich sein Auge gegen die Gummimanschette presste. Wie ein Jo-Jo sprang das Fadenkreuz zwischen Kopf und Körper des Elchs hin und her.
»Langsam, Junge, langsam. Hol tief Luft.«
Er spürte den Blick seines Vaters auf sich ruhen, wusste, dass er beurteilt und sicher auch damit verglichen wurde, wie Henry damals an jenem Tag gewesen war.
»Soll ich ihn übernehmen?«
»Nein«, fauchte Luke. »Ich sch-sch-schaff das schon.«
»Das Gewehr ist immer noch gesichert, Luke.«
Mit zitternden Fingern legte Luke den Hebel um. Der Elch hatte den Kopf wieder zur Baumrinde gesenkt, als er zu zögern schien. Er hob den Kopf und hielt die Nüstern in die Luft. Plötzlich wandte er sich um und sah direkt ins Zielfernrohr.
»Hat er uns gesehen?«
Sein Vater schaute durch das Fernglas und schwieg einen Moment.
»Jedenfalls hat er von irgendwas Wind bekommen«, sagte er dann. »Wenn du es tun willst, Luke, dann tu’s jetzt.«
Luke schluckte.
Sein Vater drängte, redete weiter auf ihn ein: »Das Gewehr ist auf siebzig Meter eingeschossen, dürfte also ziemlich genau stimmen. Außerdem geht kein Wind, richte dich also nach dem Fadenkreuz, halt genau drauf.«
»Ich weiß.«
»Ziel direkt hinter die Schulter.«
»Ich weiß.«
Der Elch schaute ihn immer noch an. Lukes Puls dröhnte in seinen Ohren. Ihm kam es vor, als wäre die Welt zu einemTunnel geschrumpft, in dem es nur noch zwei Lebewesen gab, ihn an dem einen, den Elch, der ihn anstarrte, an dem anderen Ende. Und da es dort offenbar den Tod gesehen hatte, schreckte das Tier auf und ergriff die Flucht.
Und im selben Moment drückte Luke ab.
Der Elch zuckte zusammen und stolperte. Die Herde Kühe stob auseinander und jagte voller Panik in den Schutz des Waldes.
»Du hast ihn erwischt!«
Der Bulle ging in die Knie, doch dann stand er wieder auf und lief in einem zögerlichen, unsicheren Galopp zwischen den Zitterpappeln davon. Lukes Vater sprang aus der Baummulde.
»Bist du sicher?«
»Natürlich bin ich mir sicher. Komm schon!«
Luke folgte ihm, kroch über den Schnee in das gleißende Licht der Sonne.
»Gib mir das Gewehr. Wir laufen rüber, der kommt nicht mehr weit.«
Und sein Vater hastete den Abhang hinunter, stapfte mit kräftigen Schritten durch den Schnee, das Gewehr hoch über dem Kopf. Luke folgte ihm. Halb geblendet von der Sonne fiel er so oft hin, dass er bald voller Schnee war. Laut oder auch nur zu sich selbst, das wusste er nicht, und das kümmerte ihn auch nicht, sagte er immer wieder vor sich hin: »O Gott, bitte, sag, dass ich das nicht getan habe, und wenn ich’s getan habe, dann lass ihn bitte noch leben, lass ihn bitte entkommen. Bitte, bitte.«
Als sie die Zitterpappeln erreichten, sahen sie Blut im Schnee und folgten der Spur zur Kiefernwand, die den Fuß der Schlucht säumte.
Sie hörten den Elch, ehe sie ihn sahen. Es war ein Laut, den Luke nie zuvor gehört hatte und auch nie vergessenwürde, ein tiefer, kehliger Schrei, fast wie die Tür eines verfallenen Hauses, die im Wind knarrt. Den Spuren nach war der Elch gestolpert und über eine Felskante gestürzt. Lukes Vater tastete sich vorsichtig durch schneebedecktes Gestrüpp bis an den Rand vor und starrte hinunter.
»Da ist dein Bursche, Luke.
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