Im Kreis des Wolfs
wie zum Abschied in gleißendes Licht. Als sie an den Ständen entlangging, lief eine Schar kleiner Kinder auf sie zu, die einander jagten und über ihre riesigen, vor ihnen über das Gras huschenden Schatten lachten.
Im selben Augenblick entdeckte sie Luke Calder im Gespräch mit seinen Freunden. Ohne selbst gesehen zu werden, lauschte sie dem Wortwechsel. Dass er stotterte, war für sie eine Überraschung. Und als dieser kleine Angeber ihn nachäffte, hätte sie ihm am liebsten eine geknallt. Bestimmt hatte Luke ihn gehört. Jetzt lief er zielstrebig durch die Menge, und da er den Weg zum Parkplatz eingeschlagen hatte, folgte sie ihm.
Sie hatte ihn seit der ersten Begegnung nur zweimal getroffen, einmal in der Stadt und einmal mit dem Pferd oben im Wald. Bei beiden Gelegenheiten hatte er schüchtern gewirkt und den Eindruck erweckt, als wolle er nicht mit ihr reden. Sie wusste, dass er viel Zeit auf den Pachtwiesen seines Vaters verbrachte, um auf die Herde aufzupassen. Doch sooft sie auch da oben gewesen war, nie hatte sie ihn gesehen.
Er war jetzt am Paragon-Stand und verabschiedete sich von Ruth und seiner Mutter. Dann ging er weiter zum Parkplatz. Helen folgte ihm.
»Luke?«
Er drehte sich um und blieb stehen. Als er sie sah, zuckte er erschreckt zusammen. Dann lächelte er nervös und tippte grüßend an seinen Hut.
»Oh, hallo.«
Während sie auf ihn zuging, fiel ihr auf, dass er bestimmt fünfzehn Zentimeter größer war als sie. Buzz begrüßte ihn wie einen alten Freund, und Luke hockte sich hin, um ihn zu streicheln.
»Wir sind uns noch nicht richtig vorgestellt worden«, sagte Helen. »Ich heiße Helen.« Sie streckte ihm die Hand hin, aber er war so mit Buzz beschäftigt, dass er sie übersah.
»Ja, w-w-weiß ich.« Er bemerkte ihre Hand erst in dem Augenblick, als sie sie wieder sinken lassen wollte. »Oh, t-t-tut mir leid, ich h-h-hab …« Er stand auf, und sie gaben sich die Hände.
»Und Ihr neuer Freund hier heißt Buzz.«
»B-Buzz. Das ist ein … netter Kerl.«
Helen war plötzlich ebenso stumm wie er, und so standen sie einige Sekunden lang da und lächelten einander wie zwei Vollidioten an. In einer verlegenen Geste deutete sie an, was sie für all das – den Jahrmarkt, die Berge und den Sonnenschein – empfand: »Ist das nicht herrlich? Mein erstes Rodeo!«
»H-H-Haben Sie m-mitgemacht?«
»Nein! Ich meine, das ist das erste Rodeo, auf dem ich je gewesen bin. Um Gottes willen, nein. Ich und Pferde: Katastrophe hoch zehn.«
»H-Hoch zehn. Das ist gut.«
»Reiten Sie nicht mit beim Rodeo?«
»Ich? Nein.«
»Und Sie bleiben nicht, um sich die Musik anzuhören?«
»Nein, nein. Ich m-m-muss was er-erledigen. Gefällt sie Ihnen?«
Helen runzelte die Stirn und kratzte sich am Kopf. »Na ja …«
Luke lachte, und seine großen grünen Augen schimmerten sanft. Ganz kurz nur ahnte Helen, wie er wirklich war.
»Ich hab gehört, dass Ihr Vater Rikki überredet hat hierzubleiben.«
Er nickte: »In solchen D-D-Dingen ist er w-w-wirklich gut.«
Als er den Blick über den Jahrmarkt schweifen ließ, war jede Spur eines Lächelns aus seinem Gesicht verschwunden. Wahrscheinlich, dachte Helen, war es für keinen Jungen leicht, einen Vater wie Buck Calder zu haben. Wieder folgte verlegenes Schweigen. Luke spielte erneut mit Buzz.
»Nun, ich fürchte, mir ist es immer noch nicht gelungen, Ihren Wolf zu fangen.«
Er blickte hastig auf. »Wieso denn m-m-mein Wolf?«
Sie lachte. »Ich hab das nicht persönlich gemeint. Ich wollte nur …«
»Ich hab ihn noch nie gesehen.«
Helen sah, wie er rot anlief.
»Nein, das weiß ich. Ich meinte bloß …«
»Ich g-g-geh jetzt l-l-lieber. Wiedersehen.«
»Oh, ja, okay. Wiedersehen.«
Helen blieb einen Moment stehen und fragte sich, was sie falsch gemacht hatte. Sie gingen jeder für sich zu ihren Autos. Helen winkte, als Luke davonfuhr, aber er erwiderte ihren Gruß nicht, sah nicht einmal zu ihr herüber. Sie folgte seinem Wagen hinaus aus der Stadt, aber da er schneller fuhr, sah sie, als sie von der Straße in den Sandweg abbog, von ihm nur noch eine graue Staubwolke.
Sie hielt an ihrem Briefkasten an der Abzweigung zum See, obwohl sie dies bereits auf dem Hinweg getan hatte. Er war, so wie meistens, leer gewesen. Seit sie in Montana arbeitete, hatte sie einen Brief von ihrer Mutter, einen von ihrem Vater und zwei von ihrer Schwester erhalten, aber keinen von Joel. Seine letzte Nachricht war eine verspätete Geburtstagskarte nach Cape Cod
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