Im Land der Feuerblume: Roman
gesehen – wenigstens diesen Abend soll er es unbeschwert tun.« Sie sagte noch etwas, aber ihre Stimme wurde so leise, dass Elisa nicht wusste, ob sie ihre Worte richtig verstanden hatte.
Elisa beugte sich über ihr bleiches Gesicht.
»Was hast du gesagt?«
Da wiederholte Annelie es. »Bleib nicht hier bei mir! Geh zu Lukas! Er mag dich doch! Ihr … ihr verbringt so viel Zeit miteinander.«
Elisa streichelte behutsam über ihre Stirn.
»So viel Zeit …«, bekräftigte Annelie, dann schloss sie ihre Augen. Elisa war sich nicht sicher, ob sie einschlief, ohnmächtig wurde oder einfach keine Kraft hatte, die Lider geöffnet zu halten.
Obwohl Annelie anderes von ihr verlangt hatte, blieb sie bei ihr sitzen.
Ob Lukas nach ihr suchen würde?
Wahrscheinlich nicht, entschied sie. Lukas war geduldig, er würde sie niemals bedrängen, er würde warten, bis sie ihm ihre Entscheidung mitteilte, so still, so unaufdringlich wie immer. Elisa seufzte. Es gab so viel, was sie aufwühlte, was Fragen säte und Zweifel, Unruhe und Angst vor dem Morgen, doch Lukas niemals.
Wenn sie mit ihm zusammen war, senkte sich diese Stille über sie, eine angenehme Stille – und zugleich so leere. Nichts war zu fühlen von jenem Schmerz, den sie durchlitten hatte, als sie Abschied von Cornelius genommen hatte. Doch so wie der Schmerz fehlte, so fehlte auch die Sehnsucht, das bange Hoffen, die zaghafte Ahnung von Glück, das tiefe Vertrauen. Sie biss sich auf die Lippen.
Unmöglich konnte sie darauf verzichten!
»Ich mag Lukas doch auch«, sagte sie leise und strich wieder über Annelies Stirn. »Aber ich kann ihn nicht heiraten. Ich warte auf Cornelius. Ich warte schon so lange auf ihn, denn er ist es …« Sie zögerte kurz, denn noch nie hatte sie es so deutlich ausgesprochen. Dann aber setzte sie entschlossen hinzu: »Denn er ist es doch, den ich liebe.«
20. KAPITEL
D ie Seelöwen belagerten sie förmlich; kaum einen Schritt konnte man in Hafennähe machen, ohne über sie zu stolpern. Wie träge und schwere Fleischberge wirkten sie aus der Ferne, doch das Geheul, das sie ausstießen, war furchterregend.
»Kommen Sie ihnen bloß nicht zu nahe«, hatte man Cornelius und Zacharias gewarnt, »es ist Brunftzeit, da ist das Getier besonders aggressiv.«
Cornelius betrachtete sie seitdem mit großem Respekt, Zacharias mit nackter Furcht. Früher hätte er wahrscheinlich zitternd die fürchterlichen Klauen heraufbeschworen, die sich ihm alsbald ins wehrlose Fleisch schlagen würden, doch zu Cornelius’ Erstaunen blieb der Onkel stumm.
In den letzten Monaten hatte er ihn meist wortkarg erlebt – eine Wohltat, weil er seine Klagen nicht ertragen hätte, und zugleich Spiegel der eigenen Seele, die in Trauer erstarrt war, seit ihm Zacharias von Elisas Tod berichtet hatte.
Zacharias respektierte, dass er sich darin vergraben hatte, und das half Cornelius mehr als jedes tröstende Wort. Manchmal warf der Onkel ihm einen besorgten Blick zu, manchmal murmelte er ein Gebet, manchmal legte er ihm einfach den Arm um die Schultern. Aufdringlich aber war er nie, und Cornelius fühlte sich an die Tage erinnert, da er um seine Mutter und Matthias getrauert hatte: Zacharias hatte seinen Schmerz nicht lindern können, aber ihm das Gefühl gegeben, dass jemand da sein würde, wenn er endlich daraus erwachte.
»Corral hat sich kaum verändert«, stellte Cornelius fest. »In Valdivia wurden in den letzten Jahren so viele Häuser und Straßen gebaut … doch hier … nichts dergleichen.«
»Mhm«, machte der Onkel.
»Sieh nur, die vielen Schiffe! Wahrscheinlich fahren die meisten weiter nach Valparaíso.«
»Mhm«, sagte Zacharias wieder knapp.
»Ich habe von dem Plan gehört, dass die Auswandererschiffe aus Deutschland künftig in Melipulli ankommen sollen, aber noch ist es nicht so weit. Schau dort hinten! Das könnte die Victoria sein.«
In den ersten Wochen nach der schlimmen Nachricht, die ein Fremder seinem Onkel überbracht hatte – vergebens suchte er später nach ihm, um ihn nach Einzelheiten zu befragen –, war es Cornelius unmöglich gewesen, viele Worte oder gar Pläne zu machen. Doch schlimmer noch als die Trauer um Elisa war schließlich die Leere gewesen, die sich um ihn ausbreitete und aus der er sich mit hektischen Beschlüssen und ruhelosem Handeln befreien wollte.
Später, in der Heimat, da könnte er sich dem Schmerz wieder hingeben. Nun wollte er einfach nur weg aus diesem verfluchten Land, das er ähnlich zu
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