Im Land der Feuerblume: Roman
zu sein, dass Jule und Annelie fehlten.
Licht, Licht, Licht!, ging es Elisa durch den Kopf.
Sie benutzten Öllampen, gingen jedoch sparsam damit um. Nach Sonnenuntergang wurde geschlafen, und das Leben kehrte erst wieder am Morgen zurück. Nur heute war die Stube in jenen hellen, warmen Schein getaucht, der an den Wänden Schatten tanzen ließ. Vor dem Haus hatten die Steiner-Söhne einige Fackeln in den Boden gerammt, damit den Gästen schon von weit her der Weg gewiesen wurde.
Elisa zog eine heraus und lief schnell zurück, doch dort, wo sie vorhin über Annelie gestolpert war, lag niemand mehr.
»Hier!«
Jule winkte ihr aus der Ferne zu. Sie hatte Annelie zu dem windschiefen Schuppen geschafft, der als Scheune diente. Elisa wusste nicht, ob sie sie eigenhändig getragen hatte oder Annelie zwischen den Krämpfen stark genug gewesen war, auf Jule gestützt ein paar Schritte zu gehen. Jule riss ihr die Fackel förmlich aus der Hand. Als der Schein auf Annelie fiel, sah Elisa die Blutlache zwischen ihren Beinen und den roten Klumpen, der dazwischenlag.
»Wenigstens ist es ganz schnell gegangen«, murmelte Jule.
Obwohl Elisa alle Kraft aufbringen musste, nicht zu würgen, konnte sie ihren Blick nicht von dem toten Kind lassen. Jule rammte die Fackel in die Erde und hob den roten Klumpen auf, um ihn von allen Seiten zu inspizieren.
»Nicht!«, schrie Annelie und warf ihren Kopf zurück. »Ich will es nicht sehen!«
Jule hörte nicht auf sie. »Es ist ganz«, erklärte sie nüchtern, »das ist gut. Kein Glied ist zurückgeblieben, das dich vergiften kann.«
Annelie schrie wieder auf, diesmal nicht vor Ekel und Trauer, sondern vor Schmerzen. Nach weiteren Krämpfen schwappte eine neue Blutlache aus ihrem Leib, und noch ein Klumpen folgte.
»Das ist gut«, sagte Jule wieder, »der Mutterkuchen.«
Schwer fiel Annelies Kopf auf den erdigen Boden. »So schnell«, jammerte sie, »es ging alles so schnell.«
Elisa stand wie erstarrt; sie wusste, dass sie sich zu ihr knien sollte, wieder ihre Hand nehmen, sie trösten, aber sie konnte es nicht – konnte nur auf diesen blutigen Klumpen starren, der ihr Bruder gewesen wäre oder ihre Schwester.
Indes hatte Jule ihre Schürze gelöst und wickelte das Ungeborene darin ein. Sie hob es hoch. »Vergrab es irgendwo in der Wildnis!«, befahl sie Elisa.
Elisa wich zurück. Es war ihr unvorstellbar, das Bündel auch nur zu berühren, geschweige denn, es zu vergraben!
»Was wäre es geworden?«, fragte Annelie leise.
»Ich dachte, du willst es nicht sehen«, meinte Jule.
»Wäre es ein Sohn geworden?«
»Kann sein.« Jule schüttelte unwillig den Kopf. »Frauen wie du sollten nicht schwanger werden. Hab’s dir doch schon einmal gesagt. Es gibt Mittel und Wege, das zu verhindern.«
»Nein!«, stöhnte Annelie auf. »Ich muss Richard doch einen Sohn schenken! Er würde endlich wieder neuen Lebensmut schöpfen, wenn er einen Sohn hätte!«
Unwillkürlich zuckte Elisa zusammen. Annelie rührte an ihrem alten Schmerz, doch sie gab ihm nicht nach, beugte sich vielmehr endlich zu Annelie herab und streichelte über die Schultern.
»Nicht, nicht«, stammelte sie unbeholfen. »Vater geht es doch so viel besser, seit wir hier am See leben. Das hat nicht nur damit zu tun, dass …«
»Seine Augen haben geleuchtet, als ich ihm erzählte, dass ich schwanger bin«, unterbrach Annelie sie mit rauher Stimme. »Und nun … nun wird sein Blick wieder erlöschen.«
Dann begann sie, leise zu weinen.
»Das ist zuvörderst sein Problem, nicht deines«, knurrte Jule. Sie erhob sich und bückte sich schließlich selbst nach dem Bündel mit der Nachgeburt. »Muss ich denn hier alles selbst machen«, schimpfte sie und schritt unter Flüchen von dannen.
Tränen strömten über Annelies Wangen. Die Fackel flackerte und malte Schatten auf die Wände. Der Geruch nach Blut hing durchdringend in der Luft. Sie musste Annelie waschen, schoss es Elisa durch den Kopf, sie sollte sie ins Bett schaffen. Und sie sollte ihrem Vater erzählen, was geschehen war. Stattdessen blieb sie steif hocken. »Es tut mir leid«, murmelte sie, »so unendlich leid.«
Annelies Tränen versiegten. »Ich dachte, es würde gut gehen – wenigstens diesmal.«
Elisa nahm ihre Hand. Sie war schlaff und kalt.
»Soll ich Vater holen?«
»Nein … nein … Bitte nicht! Geh zurück, hab Spaß, alle haben doch Spaß … Wenn Richard es morgen erfährt, ist es früh genug. Ich habe ihn so lange nicht lachen
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