Im Land der Feuerblume: Roman
recht und ein Schlückchen würde ihm guttun. Einst hatte er gehadert, dass der Onkel sich lieber betäubte, als sein Leben in die Hand zu nehmen. Doch in den letzten Wochen konnte er dieses Bedürfnis so gut nachfühlen. Trinken und vergessen … trinken und den Schmerz nicht mehr spüren …
Als er das Gepäck durchsuchte, stieß er auf das Kartenspiel, bei dem Zacharias einst viel Geld an Rosaria verloren hatte. Er hatte übel Lust, es im Meer zu versenken, doch dann ließ er es los, tastete sich weiter, fühlte nun die Flasche – und etwas Feuchtes.
Auch das noch! Die Flasche war ausgelaufen und sämtliche Kleider mit Schnaps vollgesogen. Warum hatte der Onkel sie nicht einfach unter der Diele liegen lassen können?
Cornelius seufzte, zog die Flasche hervor, die nur mehr halbvoll war, und gleich danach eine nasse Jacke. Die Sonne brannte auf sie herab, vielleicht würde sie noch notdürftig trocknen.
Zacharias hatte das Missgeschick nicht bemerkt, sondern starrte sehnsuchtsvoll auf die Victoria.
Cornelius indes breitete die Jacke aus – und spürte plötzlich ein Blatt Papier unter seinen Händen. Es war zusammengefaltet und in der Innentasche verborgen. Neugierig zog er es hervor. War es die Seite eines Buchs, die der Onkel mit sich getragen hatte? Etwa ein Gedicht oder ein Bibelvers?
Einst hatte er so gern und viel gelesen, Wissen daraus gezogen und auch Trost.
An den Rändern war es feucht wie der Stoff, doch als Cornelius das Blatt auffaltete, sah er, dass die Schrift nur ein wenig verschmiert, aber noch leserlich war.
»Was ist?«, fragte Zacharias. »Hast du den Schnaps …«
Er verstummte, als er sah, was Cornelius in Händen hielt.
Dieser hatte das Gefühl, sein Herz würde gleichzeitig zerspringen und stillstehen, als er die ersten Worte auf dem Blatt entzifferte.
»Mein Gott!«, stieß er aus.
Ein Schrei entfuhr Zacharias’ Mund.
Geliebter Cornelius, las er.
Annelie ging unruhig auf und ab. Manchmal blieb sie stehen und hob den Kopf, um ihr Gesicht in die Sonne zu halten, doch dann überwog die Unrast.
Ganz plötzlich hatte diese sie befallen. Nach der Fehlgeburt vor einigen Monaten hatte sie vor allem Ruhe gebraucht. Jeder Handgriff war ihr schwergefallen; bis heute fühlte sie regelmäßig ein schmerzvolles Ziehen im Unterleib, sie hatte kaum Appetit und war ständig müde. Doch anders als in den letzten Wochen, brachte das Stillsitzen heute nicht Labsal, sondern zusätzliche Qual.
»Herrgott, was ist denn mit dir los?«, fuhr Jule sie an, die nicht weit von ihr entfernt auf einem Baumstamm saß, der als Bank diente, und die Wärme genoss.
»Ich … ich weiß nicht.«
»Warum kochst du nicht?«
»Wir haben eben gegessen, warum soll ich kochen?«
»Weil du immer kochst.« Jule machte eine kurze Pause, ehe sie sich berichtigte. »Weil du immer gekocht hast. Bis du das Kind verloren hast. Das nunmehr dritte.«
Annelie wollte sich den Schmerz nicht anmerken lassen, aber sie konnte nicht verhindern, zusammenzuzucken. Jule bemerkte es allerdings nicht, weil sie sich vorgebeugt hatte und mit einem kleinen Stäbchen etwas in die Erde ritzte. Annelie konnte nur ein paar schiefe Striche erkennen.
»Und was machst du?«
Jule sah kaum auf. »Das ist ein Plan meiner Schule«, erklärte sie knapp.
»Deiner was?«
»Meiner Schule«, bekräftigte Jule, richtete sich auf und rollte nachdenklich das Holzstäbchen in ihren Händen. »Selbst Christine hat mittlerweile eingesehen, dass die Kinder nicht nur lernen müssen, wie man einen Ochsen vor den Pflug spannt und Kartoffeln erntet, sondern wie man liest und schreibt. Ich habe gestern mit ihr gesprochen.«
Annelie verzog abschätzend die Stirn. Sie war nicht sicher, was sie weniger glauben konnte: dass die beiden Frauen überhaupt miteinander redeten oder dass sie in einer Sache der gleichen Meinung waren.
»Es gibt hier keine Kinder, die lesen und schreiben lernen müssten«, seufzte sie. »Nur das Katherl, und Katherl ist schwachsinnig.«
Jule zuckte mit den Schultern. »Du bist nicht die einzige junge Frau, die welche gebären kann.«
Annelie wandte sich abrupt ab. Sie war an Jules forsche, ehrliche, manchmal grausame Art gewöhnt; eigentlich mochte sie deren nüchternen Blick auf die Welt. Doch manchmal fragte sie sich, warum diese immer alles aussprechen musste, was ihr in den Sinn kam, ohne Rücksichtnahme und ohne Mitleid.
»Jetzt sei doch nicht gekränkt!«, rief Jule ihr nach, als sie sich Richtung Haus wandte. »Ich
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