Im Land der Feuerblume: Roman
nur den Anflug von Hader oder Streit gegeben.
Ja, es war nur vernünftig, daran zu denken, dass sie heiraten sollten – wobei Lukas’ gerötete Wangen, als er ihr den Antrag machte, nicht von Vernunft kündeten, sondern von aufrichtiger, tiefer Zuneigung. Würde es diese nicht geben, hätte er ihr sonst die Harke geschnitzt und sie ihr, so schüchtern, so linkisch, überreicht?
Elisa entfernte sich noch weiter vom Haus. Wie ein schwarzes Tuch lag der See vor ihr. Vom Osorno war nichts zu sehen, fast so, als wäre er nicht da. Genauso wenig wie Cornelius da war, aller Hoffnung, aller Sehnsucht, allem geduldigen Warten zum Trotz. Sie hatte keine Antwort auf ihren Brief erhalten. In all den Monaten, ja, mittlerweile schon Jahren seit ihrer Trennung nicht auch nur das geringste Lebenszeichen von ihm erhalten, und erst jetzt, da sie im Finstern stand und mit den Händen über ihre Schultern rieb, um sich zu wärmen, konnte sie sich eingestehen, wie sehr das schmerzte und wie tief die Trostlosigkeit in ihrem Herzen wucherte.
Hatte ihn ihr Brief je erreicht? Lebte er tatsächlich in Valdivia? Ging es ihm dort gut?
Sie versuchte, sein Gesicht heraufzubeschwören, doch obwohl ihr das ansonsten mühelos gelang, blieb es heute vor ihr schwarz. Vielleicht, weil ihr so kalt war.
Sie drehte sich um und ging mit raschen Schritten zum Haus zurück. Sie hatte den mageren Lichtschein noch nicht erreicht, als ihr Fuß gegen ein Hindernis stieß. Sie wankte, wäre beinahe gestolpert und konnte sich nur mühsam aufrecht halten.
Umso entsetzter war sie, als sie ein Stöhnen hörte. Es war ein Mensch, der da lag und über den sie fast gefallen wäre.
»Mein Gott, Annelie!«
Zunächst hatte sie nicht erkannt, auf wen sie gestoßen war. Doch als sie sich hinabbeugte, brach sich fahles Mondlicht durch die dichten Wolken. Das Gesicht ihrer Stiefmutter schimmerte beinahe gelblich.
»Was ist passiert?«
Annelie wollte sich aufrichten, doch es gelang ihr nicht. Stöhnend ließ sie ihren Kopf wieder sinken. »Du bist so plötzlich verschwunden«, murmelte sie. »Dein Vater machte sich Sorgen. Da bin ich dich suchen gegangen.«
»Bist du gestürzt?«
»Nein, ich …« Plötzlich schrie sie auf; Krämpfe schüttelten ihren Körper. Elisa hielt sie fest und störte sich nicht daran, dass Annelie im Schmerz ihre Hand drückte, so stark, dass sie sie hinterher kaum noch fühlte. Langsam verebbten die Krämpfe wieder. »Es … es ging auf einmal los«, stammelte sie.
Annelie griff sich zwischen die Beine, und als sie ihre Hand wieder hob, glänzte sie rot vor Blut.
»Das Kind? Ist es das Kind?«, rief Elisa, obwohl sie genau wusste, dass es Wehen waren, viel zu frühe Wehen, die den Körper ihrer Stiefmutter schüttelten.
Erneut schluchzte Annelie auf. »Ich dachte, diesmal geht alles gut. So weit bin ich noch nie gekommen! Elisa, du musst Jule holen! Und ich will nicht, dass Richard etwas bemerkt. Nun mach schon! Geh!«
Elisa stolperte durch die Finsternis. Ihre Beine gehorchten ihr nicht. Mehr als nur ein Mal fiel sie hin. Sie hatte keine Ahnung, wie sie vor Richard geheim halten sollte, dass Annelie blutend in der Dunkelheit lag. So kopflos wie sie war, würde man ihr das Entsetzen gewiss sofort ansehen. Doch sie stieß bereits auf Jule, noch ehe sie das Haus der von Grabergs erreichte, wohl, weil deren Lust auf Geselligkeit längst gesättigt war. Sie starrte in den Himmel, nicht sonderlich irritiert, dass sich ihr nicht der Anblick eines strahlenden Sternenzeltes bot, sondern nur Schwärze. Vielleicht war es genau das, was sie nach hitzigen und lauten Stunden suchte.
»Jule, komm schnell! Annelie … Annelie …« Die Stimme gehorchte ihr genauso wenig wie die Beine.
Jule stellte keine Fragen, sondern stürzte augenblicklich in die Richtung, aus der Elisa gekommen war. Elisa kam ihr kaum nach, und als sie Annelie erreichte, kniete Jule schon neben ihr und strich prüfend über ihren Leib. Dieser wurde von neuerlichen Krämpfen geschüttelt. Annelie konnte nichts sagen, sondern biss sich stöhnend auf die Lippen.
»Es ist alles voller Blut …«, rief Elisa. »Es ist alles …«
»Ich brauche Licht!«, unterbrach Jule sie ungeduldig.
Der barsche Befehl gab Elisa Kraft. Diesmal eilte sie zum Haus zurück, ohne zu stolpern. Kurz lugte sie durch das Fenster. Andreas spielte weiterhin die Harmonika, doch es wurde nicht mehr getanzt. Richard sprach mit Jakob, Christine strich durch Katherls Haar. Niemandem schien aufgefallen
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