Im Land der Feuerblume: Roman
herunterklettern?«
»Bist du verrückt?«
»Pack alles zusammen, was du hast, und wirf es mir zu. Danach werde ich dich auffangen.«
Trotz aller Skepsis, ob ihm das gelingen würde, gehorchte sie ihm. Nach den vielen einsamen Stunden war ihr Geist wie ausgehöhlt. Sie war erleichtert, dass sie keine eigenen Entscheidungen treffen musste, sondern dass jemand da war, der ihr sagte, was sie tun musste. Als sie sich wenig später wieder aus dem Fenster beugte, war die Angst, in diesem engen Raum zu vermodern, viel größer als die Angst, in die Tiefe zu springen.
Sie warf erst ihr Bündel mit den Habseligkeiten hinunter, dann wuchtete sie den Oberkörper aus dem Fenster. Kurz befürchtete sie, vornüberzukippen und sich beim Aufprall das Genick zu brechen. Sie wich zurück und schob stattdessen ihre Beine über das Fensterbrett.
Das Holz knackte. Kam es von der Stube unten? Hatte ihre Mutter sie gehört?
Doch als sie angestrengt lauschte, blieb es still.
»Ich fang dich auf!«, versprach Manuel wieder.
Sie hatte keine Ahnung, wie er das bewerkstelligen würde, aber sie hielt die Luft an, presste die Augen zusammen, damit sie nicht sah, wie tief sie springen würde, und ließ sich einfach fallen. Ein Schrei ertönte – entrang er sich ihrer Kehle oder seiner? –, dann fiel sie auf etwas Weiches.
Manuels Atem ging stockend. Offenbar unterdrückte er mit aller Macht einen Schmerzenslaut. Ihr selbst brummte der Kopf, und eine Weile lagen sie beide regungslos im Dunkeln. Keiner wagte, als Erstes aufzustehen, doch schließlich ließ das Brummen in ihrem Kopf nach, und sie erhob sich vorsichtig. Alle Knochen waren noch heil.
»Und jetzt?«, fragte sie.
Auch Manuel sprang auf. »Und jetzt gehen wir von hier fort!«, rief er entschlossen. »Ich habe genug von diesem schrecklichen Ort. Ich will endlich leben … richtig leben! Ich will reich werden!«
Emilia war sein Trachten nach Geld immer fremd gewesen. Doch sein Bedürfnis, von hier zu fliehen, verstand sie gut.
»Aber wohin?«, wandte sie ein. »Wohin sollen wir denn gehen?«
»Egal wohin!«, rief er trotzig.
»Ich kann nicht gehen, ohne mich von meinem Vater zu verabschieden!«
»Wie oft hat er dich denn mit deiner Mutter allein gelassen? Emilia«, er trat zu ihr, umfasste ihr Gesicht und sah ihr fest in die Augen. »Emilia, wir lieben uns doch, wir wollen zusammenbleiben, wir wollen heiraten, aber hier geht das nicht. Hier lässt man uns nicht.«
Er zog sie ein paar Schritte mit sich, und sie wehrte sich nicht.
»Wir müssen fort von hier!«, rief er eindringlich.
»Also gut«, seufzte sie.
Sie warf einen letzten Blick auf das Haus. Die Stube war still und finster geblieben, ihre Mutter hatte nichts von der Flucht bemerkt. Das Heim wirkte nicht behaglich, sondern bedrohlich, und die Angst, Greta jemals wieder vor die Augen treten zu müssen, war viel größer als die Angst vor der fremden, weiten Welt.
»Also gut«, wiederholte sie und hob das Bündel mit ihren Habseligkeiten auf. »Lass uns gehen!«
»Wie konntest du das tun? Wie konntest du nur?«
Cornelius konnte nicht fassen, was er soeben erfahren hatte. Über Jahre war er Elisa, wenn überhaupt, nur mit gesenktem Blick begegnet. Nun starrte er sie wutentbrannt an.
»Wie konntest du das tun?«
»Ich habe gar nichts getan!«, erwiderte Elisa, die nicht minder verärgert schien. »Deine Tochter war es doch, die ihm diese Flausen in den Kopf gesetzt hat.«
Er war gerade erst zurückgekehrt und fühlte sich noch erschöpft von der Reise. Er kam aus El Arrayán, einem kleinen Ort, der einige Meilen südlich von Puerto Montt lag. Es war der Hauptsägeplatz des Gebiets, von wo aus das Holz über den Pèrez-Rosales-Pass nach Argentinien oder zum Hafen von Puerto Varas geliefert wurde. Cornelius hatte den Transport dorthin überwacht, desgleichen eine Lieferung landwirtschaftlicher Güter, die von Puerto Varas nach Osorno gebracht werden sollten.
Holz hatte zu den ersten Gütern gehört, mit denen er gehandelt hatte. Später waren weitere Waren hinzugekommen, und mittlerweile gehörte er zu den Lieferanten für Schlachtereien, von Leimsiedereien, Seifenfabriken, Küfereien, Ölmühlen und Schreinereien.
In den ersten Jahren hatte ihn weniger die Lust am Handel getrieben als der Wunsch, sich sein Geld mit einer Arbeit zu verdienen, die ihn immer wieder von der Siedlung und von Greta wegführte. Mit der Zeit hatte sich jedoch herausgestellt, dass er es erstaunlich gut konnte und auch mochte: zu
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