Im Land der Feuerblume: Roman
kam, sah sie den tief betroffenen Ausdruck seines Gesichts.
»Schnell! Kommt schnell!«, schrie er.
»Was ist passiert?« Beide Frauen waren zusammengezuckt.
»Jule … Jule ist zusammengebrochen! Sie hat doch so für die Schule gekämpft – offenbar ist das zu viel für sie gewesen. Annelie sagt, dass es schlecht um sie steht.«
Alle Siedler hatten sich vor dem Haus der von Grabergs versammelt, wohin man Jule nach ihrem Zusammenbruch gebracht hatte. Auch in weiter entfernte Ortschaften hatte sich herumgesprochen, wie schlecht es ihr ging, und bis zum Abend kamen immer mehr Besucher. Annelie trat mehrmals vor die Tür, um immer nur einige wenige hereinzulassen. Denn Jule, kraftlos, bleich und sichtbar um Atem ringend, war noch stark genug, zu verkünden, dass sie zu viele Menschen gleichzeitig unmöglich ertragen würde, das hätte sie nie gekonnt, warum solle sie ausgerechnet in ihrer Todesstunde ein anderer Mensch werden. Außerdem, so setzte sie mürrisch hinzu, verachte sie die Heuchelei, zu der sich alle zwangen, kaum ging es mit einem Menschen zu Ende.
»Aber du stirbst doch nicht!«, schrie Annelie auf.
»Hör zu heulen auf!«, fuhr Jule sie an. »Der Mensch wird geboren. Der Mensch stirbt. Ich habe ein gutes Leben gehabt.« Sie keuchte. »Na ja, es war vielleicht nicht immer gut«, berichtigte sie sich. »Aber es war immer meines, und das ist das Wichtigste.«
Kopfschüttelnd richtete sie sich an Annelie. »Ich hab schon länger gefühlt, dass mein Herz nicht mehr recht schlagen mag. Ich war also darauf vorbereitet. Es gibt keinen Grund zum Flennen.«
Annelies Weinen erstarb, doch an ihrer Stelle war es nun Christine Steiner, die schluchzte. Sie war es gewesen, die Jule gefunden hatte, nicht weit von der Schule entfernt.
Trotz ihres rasselnden Atems war Jule stark genug, die weinende Christine anzuherrschen: »Jetzt fang du nicht auch noch an!«
Mehrmals hatte sie sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an die Brust gegriffen, doch zugeben, welche Qualen sie litt, wollte sie nicht.
»Was soll ich nur ohne dich machen?«, rief Christine verzweifelt. »Wir gehören doch zusammen! Irgendwie …«
Es war ohne Zweifel das Netteste, was sie jemals zu Jule gesagt hatte. Diese antwortete nicht. Als die Tür aufging und Elisa mit Manuel hineinstürmte, verdrehte sie die Augen.
»Hab ich nicht gesagt, dass ich so viele Menschen auf einmal nicht ertragen kann?«
Barbara, die bisher schweigend an ihrem Krankenbett gestanden hatte, trat zu ihr. »Aber wir wollen uns doch von dir verabschieden.«
»Meinetwegen«, schnaubte Jule. »Aber bevor ihr euch schwülstige Reden zusammenreimt, lasst mich noch kurz allein … und zwar mit Annelie. Ich habe etwas mit ihr zu beschwatzen.«
Annelie blickte verwundert auf Jule, doch die anderen gehorchten dem Wunsch der Sterbenden sofort. Als Christine Steiner das Haus verließ, warf sie einen letzten wehmütigen Blick auf die Frau, von der sie stets behauptet hatte, dass sie ihre größte Feindin wäre, obwohl sie sie wohl insgeheim als wichtigste und langjährigste Gefährtin ansah, und schluchzte erneut auf.
Annelie sah Jule sorgenvoll an. Binnen weniger Augenblicke wirkte ihr Gesicht noch bleicher und eingefallener, und der Atem ging noch rasselnder.
Doch so störrisch, wie sie sich im Leben erwies, zeigte sie sich auch im Sterben. Zwar gelang es ihr nicht, sich aufzurichten; vielmehr ließ sie sich sofort wieder mit schmerzverzerrtem Gesicht fallen, aber sie fragte mit üblich schroffer Stimme, die sämtliche Gefühle verbarg: »Sind endlich alle draußen? Dieses Geheule ist ja nicht auszuhalten!«
Annelie schluckte schwer. »Warum wolltest du mit mir allein bleiben?«, fragte sie und konnte nicht verhindern, dass ihr die Kehle immer enger wurde.
»Werd nicht sentimental«, fauchte Jule sie an, wenngleich ihr Blick sich ebenfalls etwas verschleierte. »Glaub nicht, ich tat’s, weil du mir von allen am nächsten standest. Ich habe euch alle irgendwie ertragen müssen – auch dich. Allein konnte ich hier nun mal nicht überleben.«
Annelie hörte über die Kränkung hinweg, setzte sich auf die Bettkante und ergriff Jules Hand. Kurz schien es, als würde die sie ihr sofort wieder entziehen, aber dann drückte sie sie fest.
Annelie versuchte ein Lächeln. »Ich habe viel von dir gelernt«, sagte sie leise. »Vor allem, dass es oft ausreicht, sich selbst zu haben, um glücklich zu werden …«
»Wie ich schon sagte – keine Sentimentalitäten!«, unterbrach
Weitere Kostenlose Bücher