Im Land der Feuerblume: Roman
als man es erwartete, aber Jule war eben Jule – nicht nur Stütze, sondern Säule ihrer Gemeinschaft, und ihr Fehlen riss eine Lücke, die so schnell niemand füllen würde.
Beim anschließenden Mahl sprach Christine lobende Worte über die Frau, mit der sie ein Leben lang gestritten hatte und deren Tod sie doch über Nacht hatte altern lassen. Ihre Stimme zitterte hörbar, und mehrmals musste sie abbrechen, weil Schluchzen ihre Worte unterbrach, doch als Annelie ihr andeuten wollte, dass sie genug gesagt habe, so fuhr sie ihr so schroff, wie es bislang nur Jule getan hatte, über den Mund und verlangte, die Rede zu Ende zu führen.
Als Poldi seine Mutter musterte, überkam ihn Rührung. Sosehr sie unter Jules Tod litt – morgen, dessen war er sich sicher, würde sie ihren Rücken straffen, ihr Kinn hochrecken und weitermachen, so wie sie es immer getan hatte. Nach dem Unfall des Vaters, nach Lukas’ Tod, nach Fritz’ Weggang aus dem Dorf. Ja, auch damit, dass er, ihr Jüngster, in Unehre gefallen war, würde sie fertig werden. In den letzten Jahren hatte sie an Kraft verloren, vielleicht auch an Lebensfreude – aber nie hatte sie es an Willen fehlen lassen, die eigene Würde zu wahren und ähnlich selbstbewusst wie Jule durchs Leben zu gehen.
Poldi seufzte, unsicher, ob auch er das konnte – mit jenen misstrauischen, spöttischen, herablassenden Blicken fertig zu werden, die ihn trafen. Auch Barbara bekam diese zu spüren.
Sie hatte es sich nicht nehmen lassen, zu Jules Beerdigung zu kommen, doch vor dem Leichenschmaus huschte sie unauffällig weg. Obwohl Poldi der Magen knurrte, verging ihm augenblicklich der Appetit. Er eilte ihr nach, und es war ihm gleich, ob es jemand sah.
Was soll’s, dachte er, unser Ruf ist ohnehin ruiniert …
Barbara ging in Richtung des Waldes, ohne sich umzudrehen – einen Weg, den sie so oft gegangen war: bis vor kurzem, um sich heimlich mit ihm zu treffen, jetzt, um allein zu sein. Kurz zögerte er, ihr zu folgen und sie zu stören, doch als sie sich der Rodungsgrenze näherte, rannte er ihr nach.
»Barbara!«
Sie stapfte weiter, als hätte sie ihn nicht gehört. Er holte sie ein. »Barbara! Wir müssen miteinander reden.«
Endlich hielt sie inne. »Worüber?«
Sie blickte ihn an, und der Ausdruck ihres Gesichts erschreckte ihn. Ihre braunen Augen glänzten nicht, sondern waren wie erstorben. Anstelle der Grübchen, die ihn stets bezaubert hatten, gruben sich tiefe Falten in die Wangen. Ihre Bewegungen waren noch rege wie einst; ihre Haare noch kräftig und ohne weiße Strähnen. Und obwohl sie nicht alt wirkte – so alt wie seine Mutter oder wie Jule –, war sie dennoch gebrochen.
»Wir müssen darüber reden, wie es weitergeht.« Seine Stimme klang zaghaft.
»Rede lieber mit Resa darüber.«
»Als ich ihr sagte, dass ich unser Haus wieder aufbauen werde, hat sie verkündet, dass sie es nie betreten wird.«
»Und wo will sie stattdessen leben?«
»Christl hat ihr Unterschlupf geboten.« Er zog verdrießlich die Stirn in Falten. Ausgerechnet Christl!
Barbara nickte jedoch zustimmend. »Das ist gut. Das Leben wird für sie weitergehen … irgendwie.«
Sie wandte sich ab. Der durchdringende Geruch der Araukarien stieg ihm in die Nase. Solange er lebte, würde dieser Geruch für ihn immer Barbaras Geruch sein, der Geruch ihrer Liebe, der Geruch ihrer Lust. Vielleicht war nie wirklich genug Liebe da gewesen, sondern immer nur Lust.
»Und wie geht es mit uns weiter?«, fragte er.
Er wusste nicht, was er erhoffte – eine Versöhnung mit Barbara, eine Versöhnung mit Resa oder einfach nur die Kraft, damit zu leben, dass beides ausblieb.
»Ich habe all die Jahre auf Kosten meiner Tochter gelebt.«
»Wir konnten doch nicht anders …«
»Natürlich hätten wir anders gekonnt!«, fuhr sie ihm über den Mund. »Aber wir wollten es nicht!« Sie machte eine kurze Pause, dann fuhr sie gemäßigter fort. »Vielleicht hätte es uns zerstört, dagegen anzukämpfen, zumindest am Anfang … Doch später … später hätte es Gelegenheiten gegeben, es zu beenden. Nach Taddäus’ Tod …« Gedankenverloren hielt sie inne. »Aber nun, Poldi, nun ist es endgültig vorbei.«
Er widersprach ihr nicht. »Du wirkst todunglücklich.«
»Das bin ich auch. Aber mach dir keine Sorgen. Irgendwann werde ich wieder singen. Irgendwann werde ich wieder lachen. Jedoch nicht mit dir. Nie wieder mit dir.«
Er senkte den Kopf und war zu seinem Erstaunen nicht nur tief
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