Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Land der Freien

Im Land der Freien

Titel: Im Land der Freien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Altmann
Vom Netzwerk:
rannten los, um ihren Claim abzustecken. So entstand die Hauptstadt Oklahomas. Anders Atlanta. Da war Zeit, um Formen und Perspektiven zu entwerfen. Ein Gefühl für Harmonie wuchs. Wohl nicht harmonisch genug, um die Abrissbirnen-Besitzer zum Hinschauen zu verführen.
    Natürlich ist Atlanta eine Brutstätte der Kriminalität, nach Leichen und Verbrechen stinkend. Sogar unbewaffnete Schläfer sind verdächtig. Sie scheinen es hier noch immer nicht durchschaut zu haben: Auch der permanente Anblick von Hässlichkeit treibt in den nackten Hass. Nichts, was die verwundeten Augen heilt. »Schönheit«, schrieb Dostojewski, »wird die Welt retten.« Rettungsloses Atlanta.

NASHVILLE
    Zuletzt passt alles, ein Abschied nach Maß. Durch das Fenster werfe ich einen letzten Blick zurück auf die Greyhound-Station und sehe einen Mann ums Eck keuchen, energisch die Arme schwenkend. Eindeutig, er will mit, will auf und davon. Aber wir sind voll. Ein Flash von Mitleid überkommt mich.
    Doch auch an Orten wie Atlanta produzieren und verkaufen sie ein Ding, einen Gegenstand, ein Objekt, das noch immer stark genug ist, mich und Millionen andere mit der Wirklichkeit zu versöhnen: Es funktioniert ohne eine einzige Batterie, nie ist eine Steckdose erforderlich. Keine Knöpfe müssen gedrückt werden. Man kann es auf elegante Weise zur Hand nehmen und somit Intelligenz ausstrahlen. Es bedeutet den einen fast alles und den anderen absolut nichts. Es rauscht nicht, es pfeift nicht, keine unerklärbaren Warnlichter schrecken, in keinem Augenblick besteht die Gefahr, dass der Inhalt verschwindet. Hundert Prozent virenfrei. Garantie grenzenlos, ein ganzes Leben lang. Sogar in einer Badewanne macht es Freude, ohne dass man mit der Gefahr rechnen müsste, von einem Stromschlag aus seinem Vergnügen gerissen zu werden. Als Zubehör genügt ein altes Metroticket. Aber es geht auch ohne. Wer öffentlich damit protzt, muss selbst in der New Yorker Subway nie fürchten, dass ein anderer ihm sein Kleinod entreißt. Es handelt sich sicher um die überwältigendste Erfindung der Menschheit. Weil es alles vermag, unerhört lügen und unerträglich wahr sein. Weil es von jeder Regung in uns zu berichten vermag, selbst von der Fähigkeit, uns anzunähern an die wunderlichsten Widersprüche in unserer Seele. Das Ding sieht fürchterlich normal aus, ist rechteckig und beginnt mit dem angenehm stillen Buchstaben »B«: »B« wie »Buch«.
    Minuten hinter der Stadtgrenze habe ich meinen Frieden mit Atlanta geschlossen. Immerhin verdanke ich ihm knapp achthundert Buchseiten, die ich dort gekauft habe. Wiegend und zehn Meilen und zehn Lichtjahre vom » World of Coca Cola «-Museum entfernt, wo die Geschichte des berühmtesten Zuckerwassers des Weltalls aufbewahrt ist, lese ich eine Biographie über Allen Ginsberg. Sie beginnt mit einer amüsanten Anekdote über eine Lesung des Dichters in Paterson, seinem Geburtsort in New Jersey. Nach dem Vorlesen erwähnte Ginsberg, dass er regelmäßig Marihuana rauche: »… denn die Droge hilft mir, mich an bewegende Ereignisse meiner Kindheit zu erinnern.« Am nächsten Morgen erließ der Bürgermeister einen Haftbefehl. Ein Doppelgänger mit Vollbart und Nickelbrille wurde festgenommen. Der echte Ginsberg hatte sich inzwischen in New York in Sicherheit gebracht. Die Presse verlachte den Wichtigtuer aus Paterson. Und der Dichter inhalierte schon wieder.
    Nach der Anekdote stellt der Autor der Biographie einen Spruch aus den »Ekklesiastes« vor. Die fünf Zeilen sollen Auskunft geben über Allen Ginsbergs Bereitschaft, den Eintrittspreis zu zahlen für sein so bewegtes, so widerspruchsgejagtes Leben: » And I gave my heart to know wisdom, and to know madness and folly: I perceived that this also is a vexation of spirit. For in much wisdom is much grief. And he that increaseth knowledge increaseth sorrow .«
    Nach zwei Stunden muss ich schlafen. Selbst Ginsbergs atemloses Suchen nach Tiefe und Sprache kann nicht verhindern, dass ich irgendwann wegsinke. Und erst ein wundersamer Traum holt mich zurück. Eine Wand aus bauchiger Wärme und Haut nähert sich mir, überflutet mich wie eine Welle, drängt mich – und erst jetzt Anzeichen leichter Panik – zurück. Ich erwache und sehe ein lieb lächelndes Gesicht vor mir: » Hi, my name is Eva .« Eva ist die Wand aus Haut, sie ist gerade zugestiegen und hat mich vorsichtig zusammengeschoben. Denn Eva, bei Gott, braucht Platz.
    Sinnigerweise fällt mir der Film It Happened

Weitere Kostenlose Bücher