Im Land der Freien
ihrem Sitz. Wie fürsorglich sie mit ihrem Fett umgehen. Behütet soll es sein, nicht anstoßen an den Kanten einer knallharten Welt.
Dass die Wirklichkeit einfach witziger ist als alle Phantasie, beweist Lorraine, die drei Reihen hinter mir sitzt. Vermutlich verzehrt sie gerade ihr drittes Frühstück, auf der Burger-King-Tüte steht – fett gedruckt – der ermunternde Aufruf des Fast-Food-Fabrikanten zur schuldfreien Prasserei: » Go large .«
Fast achtzig Prozent der Passagiere sind jetzt schwarz, der Rest Mexikaner, ein paar Weiße. Der Süden rückt näher. Heute funktioniert das Nebeneinander ohne Demütigungen. Bis zur Bürgerrechtsbewegung in den sechziger Jahren war das anders. Passierte der Bus die Grenze von einem Bundesstaat, der die Rassentrennung aufgehoben hatte, zu einem anderen, der sie noch immer praktizierte, so stoppte der Fahrer kurz und forderte die Schwarzen auf, sich nach hinten zu begeben. Dann installierte er im Gang eine Scheibe aus Plastik. Damit die einen hinten blieben. Und die anderen, die Weißen, nicht störten.
Es kam zu Zwischenfällen, der bekannteste betraf die couragierte Maggie Mack. Beim Grenzübergang zwischen Missouri und Arkansas verweigerte sie den Gang zu den Rücksitzen und harrte vorne aus. Der herbeigerufene Polizist ließ sich zu zwei Ohrfeigen hinreißen, für die Greyhound vor Gericht zu 1500 US $ verurteilt wurde.
Explosiver wurde es, als freedom riders , meist junge Weiße, die für Rassengleichheit eintraten, die Greyhound-Busse benutzten. Stramme Rednecks, ehrenwerte Gottesmänner und aufrechte Menschenhasser erkannten in ihnen rabble rousers , von Moskau finanzierte Volksverhetzer. Ein kompletter Bus ging in Flammen auf.
Heute – ich will für immer dankbar sein – steht dem Informationsfluss zwischen allen 47 Passagieren nichts mehr im Wege. Auch nicht zwischen mir und David, der ein Auge auf mich geworfen hat. Irgendwie scheine ich etwas Gottloses und Verlorenes auszustrahlen, so anziehend wirke ich auf Menschenretter und Seelenfänger. Vielleicht hat es auch nur mit der Tatsache zu tun, dass wir uns seit geraumer Zeit im »Bibel-Gürtel« befinden. Das ist die Gegend, wo Männer und Frauen wie in wohl keiner anderen Gegend auf dem Globus geradezu von der Idee des rechten Lebens besessen sind. Von dem Drang, dem Himmel und den himmlischen Heerscharen wohlzugefallen.
David, Mitte zwanzig und hauptberuflich Missionar, ist strahlendes Mitglied der » Church Universal and Triumphant «. Die Chefin heißt Elizabeth Clark Prophet, sie ist der Kurier zwischen dem Herrn und uns, den niederen Kreaturen. Sie residiert in Malibu – feine, sonnenblaue Adresse, wo auch Joan Collins residiert – und gilt als Reinkarnation von – wer hätte Zweifel daran? – Nofretete. Die sieben Chakren – Chakren sind imaginäre Orte im Körper, deren Aktivierung durch Yoga spirituelles Wachstum fördert – bilden den Hauptpfeiler dieser Malibu-Religion.
Missis Prophet hat nun dieser weisen, uralten Philosophie den New-Age-Touch verpasst. Sieht sie doch einen direkten, sprich metaphysischen Zusammenhang zwischen diesen Chakren und gewissen amerikanischen Städten. So repräsentiert Chicago das vierte, das Herzchakra, Symbol von Liebe und Verstehen. Ein anderes Chakra, Synonym für Mitleiden und Erbarmen, gehört – wir wissen es alle – nach Los Angeles. Wahrheit und Heilung hingegen finden sich – auch das zwingend – in New York.
Ich beiße mir auf die Lippen. Fest, denn es kommt noch hinreißender. Stichwort »Reinkarnation«. Ich mache eine Stichprobe und erwähne Mohandas Gandhi. Und David leuchtet, als hätte er auf meine Frage nur gewartet: »Er ist einer von uns. Wiedergeboren in einem College-Girl. Ich kenne sie persönlich.« Meine Lippen zittern jetzt. Erbarmungslos fährt der Junggreis fort und singt plötzlich das Hohe Lied vom Pfad der Keuschheit, den sie in der Triumphierenden Kirche alle beschritten hätten.
Nach dem nächsten Satz blicke ich mit zusammengekniffenem Gesicht hinaus nach Georgia. Wollustwellen schwappen durch meinen Körper. Als Belohnung würde ich David am liebsten in die Arme schließen. Hat er mich doch gerade wissen lassen, dass der Mahatma, die große Seele, nie oralen Sex praktizierte. Und warum nicht? Weil der Mund über dem Herzen liege und die Geschlechtsteile darunter. Deswegen: Unten gehöre nach unten. Und oben nach oben.
Großes Land, große Wunder. Gibt es irgendeinen himmelblauen Blödsinn auf Gottes geduldiger Erde,
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