Im Land der Freien
irgendeine Phrenesie, irgendeine dementia praecox, irgendeinen Irrsinn, den sie hier nicht aufspüren und weitersagen? Oder gibt es das nicht? Does anything go? Ist alles, einschließlich Elizabeth Clark Prophets Kommentare über Gandhis angeblich nie stattgefundene Cunnilingus-Praktiken, denkbar, sprich verkäuflich? Aber ja, tausendmal ja. – Wäre ich Religionsstifter, ich würde die Gemeinde der Fassungslosen stiften.
Wieder das Monstrositätenkabinett. Weiter vorne im Bus kommt es zu einem knappen Wechsel heiliger und unheiliger Worte. Ein junger Kerl trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift: » What the fuck am I alive for? « Warum zum Teufel lebe ich? Ein anderer Passagier – auf seinem T-Shirt steht geschrieben: » For the natural man receiveth not the spirit of God. Corinthian 2:14 .« Frei übersetzt: Denn Otto Normalverbraucher hat noch nicht den Geist des Herrn empfangen – steht auf und spricht den Existentialisten an.
Dem Verzweifelten muss geholfen werden. Hier, mitten im Bibel-Gürtel, glaubt einer nicht an den christlichen Sinn des Lebens. Der Gedanke scheint unerträglich. Aber das Rettungsmanöver – » May I tell you something about Jesus? « – geht schief. Der Gottlose schickt den penetranten Gutmenschen zur Hölle. Mit den vier einfachsten Worten der Welt: » You better fuck off .« Unglücklich über die verlorene Seele, zieht sich der Alte zurück.
In Atlanta bin ich allein und müde. Es gibt Städte, die muss man betreten, um zu wissen, wie sie sich anfühlen. Auch dann, wenn man meint, so vieles von ihnen zu wissen. Andere Städte machen irre vor Fernweh, wenn einer nur halblaut ihren Namen ausspricht. Flüstert jemand das Wort »Venedig«, so wird ein anderer schon leicht schwanken: benebelt von den Versprechungen, die diese drei Silben andeuten. Ihr Duft zieht in das entfernteste Eck der Welt. Anders bei Atlanta, dem Zentrum des Südens.
Ein paar Schritte vom Greyhound-Terminal entfernt leuchten ein paar Quadratmeter Wiese. Bevor ich mich entscheide, ob ich bleibe, will ich einschlafen, zwei unruhige, schlaflose Nächte liegen hinter mir. Erfolglos. Nicht zehn Minuten bin ich unbeaufsichtigt. Zwei dünne – ach, die ungemütlichen Dünnen – Polizisten verbieten die Nachmittagsruhe. Habe ich ihr Südstaatenenglisch richtig verstanden, so halten sie mich für einen umgefallenen Junkie, der hier im Weg liegt. Ich finde noch einmal ein Stück Gras. Und wieder werde ich vertrieben. Diesmal von den Junkies, die mich für einen Polizisten in Zivil halten. Ich sei » a fucking con artist «, auf der Lauer liegend und mich als harmloser Drogenkäufer anbiedernd. Was für eine verdrehte Welt: sich rechtfertigen müssen für die friedsamste Tätigkeit menschlicher Existenz. Hundemüde ziehe ich weiter und besteige den nächsten Bus. Atlanta will von mir nichts wissen.
Der Abschied ist schmerzfrei. Denn seit langem leide ich am »Wladimir-Syndrom«, einer schwerwiegenden Unpässlichkeit: Vor Jahren arbeitete ich als Reporter mit meinem Übersetzer Wladimir Nikonow in Bischkek, seinem von stalinistischen Betonbrocken verkrüppelten Geburtsort, heute Hauptstadt der Republik Kirgisien. Kurz vor unserem ersten Treffen war Wladimir von einem längeren Besuch in Deutschland zurückgekommen. »Paradies«, nannte er es. Dort habe er vom Apfel der Erkenntnis gegessen. Genau so erschütternd drückte er sich aus. Als er in Stuttgart mit dem Kopf voran in eine Hoteltür rannte, sei er erleuchtet worden. So sidolgeputzt, so ununterscheidbar von purer Luft sah die Tür aus. Seit er nun wieder im Lande sei, sehe er plötzlich Dinge, die ihm vorher nie aufgefallen seien: Tonnen von Dreck, eine Million Quadratmeter Grau, so viele schmutzgrindige Glastüren.
Das ist das Wladimir-Syndrom: auf einmal Zustände sehen, die man vorher nie gesehen hat. Den Russen erleuchtete eine Beule in Deutschland. Mich verdarben fünf Jahre in Paris endgültig. Wer mit dieser Erfahrung in Atlanta eintrifft, dem fallen alle erfindbaren Gründe ein, um wieder abzureisen. Diese Stadt ist ein Batzen Scheiße ins Gesicht empfindsamerer Gemüter. Ein tropenheißer Gulag. Diesmal ausgedacht von Kapitalisten, die in den sechziger Jahren anfingen, alles niederzureißen, was hier auf souveräne Weise einmal vom architektonischen Charme des Südens erzählte.
Dass Oklahoma City aussieht wie Oklahoma City, ist noch nachvollziehbar. Dort schoss am frühen Vormittag des 22. April 1889 der Sheriff in die Luft und zehntausend Hillbillies
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