Im Land der Freien
eigenen phänomenalen Erfolgsstory. Die meisten von ihnen sitzen auf ihrer nagelneuen Couchgarnitur, die kalorienstarke Frau umschlingend, nach Worten ringend, nicht fassend, dass ihr voriges Leben – das Leben als Versager, als Nicht-Millionär – nun zu Ende ist: »Aber Sie müssen JETZT anrufen!«
Ich ziehe mich erschossen – hier reden sie nicht, hier schießen sie die Worte – zurück auf meine drittklassige Matratze und phantasiere von einem Millionärsbett, das nicht wackelt und groß genug ist, um meine überstehenden Zehen daunenweich zu wärmen.
Andere Zeiten, andere Träume. Als Michelangelo im Sterben lag, fragte ihn ein Freund, was ihm denn die Kraft für ein solches Leben gegeben habe. Und der Meister antwortete: » La forza d’un bel viso «, die Kraft eines schönen Gesichts. Ohne die Möglichkeit, immer wieder in schöne Männergesichter, in schöne Frauengesichter zu blicken, hätte er nicht 89 Jahre lang durchgehalten. Nicht als Mensch. Und nicht als Künstler.
Hier, 450 Jahre nach seinem Tod und 6000 Kilometer weit weg von seinem Sterbebett in Rom, haben sie das Anhäufen von Dollarnoten als den allein seligmachenden Antrieb des Lebens erkannt. Noch um zwei Uhr nachts bellen sie die frohe Botschaft über den Äther. Diese Hingabe an den grünen Dollar scheint trotziger, unentwurzelbarer als der Glaube an das undurchlöcherte Hymen der Jungfrau Maria. Lieber akzeptieren sie eine befleckte Befruchtung als die Idee, dass Geld nicht schnurgerade in den Himmel führt.
Da passt eine vor Tagen in USA Today veröffentlichte Statistik über die Vorlieben beim Investieren: »Für was und wieviel würden Sie ausgeben, wenn Geld genügte, um Ihren Wunsch zu erfüllen?« Und das Ergebnis – an erster Stelle, noch vor wahrer Liebe, Schönheit und Präsident-Sein – : »Ein Platz im Himmel.« Für den würden die Befragten 640 000 Dollar hinlegen. Ich schlafe unruhig. Die Aussicht, dass ich nie genug Scheine verdienen werde, um die kostenlose Einlieferung in die Hölle zu vermeiden, stimmt bedenklich.
Am nächsten Tag werde ich mit hundert Freuden verwöhnt. Ich spüre, dass Nashville mir guttun wird. Der agile Hotelbesitzer braut Kaffee für mich, holt frischgebackene Doughnuts und weiß sogar, dass sich am nächsten Hauseck eine Bushaltestelle befindet. In der Regel liegen preisgünstige Motels einen halben Tagesritt vom Zentrum entfernt.
Aber heute ist Sonntag und noch nach einer Stunde stehe ich allein herum, ohne Bus. Also marschiere ich los, vorsichtig. Denn nach dem Betonieren der achtspurigen Zufahrtsstraße war kein Geld mehr für einen schmalen Bürgersteig. Eindeutig, Fußgänger gelten als Wirtschaftssaboteure, sie verdienen die Angst. Doch der Weg lohnt sich. Bald komme ich an einem Schild mit der Aufforderung » Visit Ave Maria Grotto – Jerusalem in miniature « vorbei. Jerusalem im farbenfrohen Liliputanerformat, heute leider – wie die öffentlichen Verkehrsmittel – außer Betrieb.
Dafür hat zwei Blocks weiter die Private Fantasy offen. Die getönten Fenster versprechen Heimlichkeit. Ich läute und die strahlende Rapture öffnet. Rapture – schönes englisches Wort für das schöne deutsche Wort »Entzücken« – führt mich zu einer der vier Kabinen und lädt mich zu einem lapdance ein. Ein ganz besonderer Tanz, bei dem Rapture mit ihrem Gesäß über dem Schoß des Kunden tanzt, eng tanzt. Für diese Aufmerksamkeit wären fünfzig Dollar zu hinterlegen. Ich vermute mal, nein, ich weiß, dass es angesichts Raptures unbarmherzig herausfordernden Körperteils nicht bei den ersten Unkosten bleiben wird. In diesem Fall, also in jedem Fall, wird der entzückte Gast für das full menu optieren, sprich 140 Dollar.
Beschwingter Abschied von der fröhlichen Hure. Neben ihrem Blockhütten-Puff stehen ein National Pride Car Wash und ein Kirchlein: » Jesus is coming soon .« Ich finde, hier wurde bürgernah geplant. Die Wartezeit auf den Herrn soll so angenehm wie möglich verkürzt werden: Amerikastolz seinen Wagen waschen lassen, Rapture besuchen und nach der Fleischeslust die Seele befriedigen. Alles da.
Nashville ist ein rühriger Flecken. Über mein Walkman-Radio höre ich von der Expressway Connection : Männer und Frauen, die Liebe suchen, warten bereits am anderen Ende der Telefonleitung. So wird es versprochen. » No escort service, but a friendship hotline «, dazu da, den eiligen Geschäftsmann mit Expressfreundschaften zu versorgen. Das Angebot dieser Dienstleistung
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