Im Land der Freien
Harley-Davidson-Fahrer, hätten Aristoteles gefallen. Weil sie anders aussehen. Weil sie – so steht es über dem Nummernschild von einem – » Different ’til death «, anders bis in den Tod, sein wollen. Weil in den meisten der Gesichter etwas Seltenes drinsteht, so etwas Seltenes wie Hunger und Suchen.
Am Ende der Second Avenue, zwischen Hard Rock Café und dem Cumberland River, sind an diesem Sonntag ein paar Hundert von ihnen zusammengekommen, um Geld zu organisieren für die Leukämieforschung. Sie machen Musik und auktionieren ihre freiwilligen Gaben. Genau vor einem Jahr ist einer von ihnen an dieser Krankheit gestorben. Das veranstalten sie cool und lachen dabei laut in ihre schönen Bärte. Nirgends die griesgrämige Penetranz der professionellen Wohltäter. Ein Seitenblick auf ihre Freundinnen beunruhigt. Schon verblüffend, wie schmuck und begehrlich Frauen auf Motorrädern aussehen.
Abends treffe ich Terry, den Hausierer. Statt eines Bauchladens voller Klobürsten und Haarkämme besitzt er einen Pick-up. » Going places « nennt er seine Arbeit. Er durchsucht sein Land nach Sperrmüll, lädt ihn auf, verschleudert ihn drei Meilen weiter. Seinen Ford hat er heute vor der Tootsie’s Orchid Lounge geparkt, er will sich amüsieren.
Wir gehen zusammen. Der Türsteher durchsucht meine Tasche, ab und zu kommen Messerstecher vorbei, man will kein Risiko eingehen. Terry muss draußen bleiben, er besteht den Geruchstest nicht. Irgendwie riecht er nach alten Möbeln. Später schafft er es mit Hilfe eines im nächsten Drugstore erworbenen Körpersprays.
Die Ken Taylor Band spielt auf, jauchzen, jodeln, in die Hände klatschen, wer an diese Musik nicht rankommt, muss einiges ausstehen. Bluegrass, Cowboy Music, Honky Tonk, Hillbilly, Blue Yodels. Ken, der Boss, lässt nichts aus. Mir fällt eine chilenische Fernsehwerbung ein: Es ging um einen Whisky, der angeblich so stärke, dass man nach dessen Genuss sogar ein Bataillon Dudelsackpfeifer leise lächelnd verkraften könne. Ich bestelle sogleich. Und da ich nichts vertrage, bin ich schon nach zwei Martinis ein leiser Lächler.
MEMPHIS
Beschwingt davon. Im Greyhound-Terminal komme ich mit Levi Mast ins Gespräch. Mit Frau, Schwester und seinen vier Kindern wartet er auf einen Bus Richtung Norden. Sie sehen anders aus als die anderen Anwesenden. Die Frauen mit Häubchen und langer Kutte. Und sie benehmen sich, als wären sie nicht von dieser Welt. » GAMES – SNACKS – GIFTS « leuchtet es, und sie sehen nicht einmal hin. Den neben jedem Sitz installierten Fernseher schalten sie nicht ein. Die Frauen lesen still, konzentriert, von keinem äußeren Geräusch abgelenkt. Ein friedliches, keusches Bild, nichts schreit, verwundet, verletzt die Ohren.
Levis Familie gehört zu den Amish, den amischen Mennoniten, einst eingewandert aus der Schweiz. Ihr seligster Wunsch ist, sich von den Verwüstungen des Fortschritts fernzuhalten. »Wenn irgendwie möglich«, fügt der Einundvierzigjährige hinzu. Denn ein Bus ist ein Fortschritt, den sie benutzen, wenn es nicht anders geht. In ihrem Dorf in Illinois haben sie keinen Strom, kein fließendes Wasser, kein Telefon, nicht ein einziges motorisiertes Vehikel, eisern vereint im Widerstand gegen den Terror des pausenlosen Konsums. Levi lässt den wilden Satz raus: »Beim Erntedankfest müssten in Amerika die Feuerwehrsirenen heulen. Damit jeder erfährt, wie schamlos sie hier die Gaben Gottes plündern.«
Der Mennonit erinnert mich an die Anekdote zweier Zen-Schüler, die darüber streiten, wer von ihnen den souveräneren Meister habe. Der eine sagt: »Schau, da drüben am Ufer des Sees gehen Leute. Mein Meister könnte sie selbst aus der Ferne so beeinflussen, dass sie genau das täten, wozu er sie auffordert.« Der andere Schüler schweigt beeindruckt und sagt dann: »Nicht schlecht. Alles das kann mein Meister nicht. Aber er redet, wenn er redet. Und er schläft, wenn er schläft. Und er isst, wenn er isst.«
Levi hat diese leise, baumstarke Konzentration. Er muss sich nicht mehr um sie bemühen, sie ist da, immer, nichts scheint ihn von unserem Gespräch abzulenken. Das wirkt beinahe surreal, denn um uns herum ist einmal mehr der rasende Stillstand tätig: zappende Dreizehnjährige auf der Suche nach dem schnellen Thrill, dröhnende Walkmen, die Lautsprecherdurchsagen, ein kaputter Alter, der seinen Körper nach Ungeziefer absucht, drei hysterische Mütter, die versuchen, ihre plärrenden Kinder zur Ruhe zu
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