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Im Land der Freien

Im Land der Freien

Titel: Im Land der Freien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Altmann
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überreden.
    Jeden Tag kniet Levi sich nieder und betet. Wenn »Versuchungen« kommen, mehrmals am Tag. »Und sie kommen.« Er redet wie ein moderner Mensch, er hofft auf Erlösung, aber er hat keine Sicherheit. Seine Armut ist kein Thema für ihn, sie scheint ihm normal und richtig. Er versteckt nichts, nicht die verschnürten Kartons, die als Koffer dienen, nicht sein mehrmals geflicktes Gilet, das er über seinem geflickten Hemd trägt. Er bittet um nichts, auf unangestrengte Weise ist er mit allem, was er besitzt, zufrieden.
    Der Bus wird voll, diesmal mit mexikanischen Saisonarbeitern auf dem Heimweg. Die meisten von ihnen sprechen noch immer keine zehn Worte Englisch. Das passt den Arbeitgebern. So kann sich niemand beschweren: über die Zumutungen, die Hitze, die Blechhütten zum Schlafen, das Fehlen jeglicher sozialer Leistungen. Jorge und ich sitzen nebeneinander. Für sieben Dollar die Stunde buckelte er auf den Tabakfeldern von Kentucky. Nun muss er zurück in die mexikanische Arbeitslosigkeit. Bevor er sie antreten darf, gilt es die Grenze nach Mexiko zu passieren. Das kostet, weil dort seine Landsleute als Zöllner arbeiten.
    Wer als armer – sprich: wehrloser – Mexikaner zurück in sein Land will, der hat zuerst einmal Zahltag. Denn hier bezahlen sie an die diensttuenden Gangster eine Art Privatmaut: den Eintrittspreis, um die Demarkationslinie von der Ersten in die Dritte Welt überschreiten zu dürfen. Natürlich ist auch der Zöllner hundsgemein arm, aber weniger arm, da im Besitz von Macht. Jorge erzählt mir von den Manövern, die er und seine Kollegen veranstalten, um den Großteil ihres geringen Barvermögens sicher nach Hause zu schmuggeln: wie sie es in den verschiedenen Versenkungen des Körpers zwischenlagern. Was dort nicht Platz findet, kommt in die akribisch angelegten Ritzen ihres Gepäcks.
    Aber Jorge und ein paar seiner Amigos jagen noch andere Probleme. Jorges heißt Maria, seine zum vierten Mal schwangere Ehefrau, und Pedro, Alvaro und Federico, seine drei Söhne. Jorge, der Zweiunddreißigjährige und zukünftige vierfache Vater, muss mir versprechen, nie mehr Maria zu schwängern. Denn mit vier chicos werden sie es in diesem Leben bei einem Sieben-Dollar-Stundenlohn für vier Monate im Jahr schon anstrengend genug haben. Jorge sieht den Ernst der Lage, trocken kommentiert er: » Claro que sí, si no trabajas, no comes «, aber ja doch, wer nicht arbeitet, hat nichts zu essen. Da Jorge mehrmals das Wort esposa , Ehefrau, erwähnt, fällt mir wieder ein, dass der Plural dieses Wortes, also esposas , neben »Ehefrauen« auch »Handschellen« bedeutet. Und esposar : Handschellen anlegen. Wie gern würde ich Jorge noch einen meiner Lieblingssätze mitgeben: »Du sollst nicht ehe-erbrechen!« Aber ich kann nicht, das so grausam wahre Wortspiel funktioniert nicht im Spanischen.
    Abends um Viertel nach zehn betrete ich eine Stadt, von der ein amerikanischer Autor behauptete, sie sähe aus wie Sarajevo um sechs Uhr morgens. Ungenau beobachtet, denn Memphis sieht aus wie Sarajevo um sechs Uhr morgens, nachdem es die Amerikaner wieder aufgebaut haben. Riesig, gräulich, ein echter Totmacher. In New York lebt ein Filmkritiker, der schlechte Filme verschieden hoch » on the vomit scale «, auf der Kotzlatte, platziert. Wäre Memphis ein Film, man würde kotzend hinauslaufen. Als ich von der Busstation auf die 4. Straße hinaustrete, lallt mir ein weiblicher Crackhead entgegen, ein von Drogen und Hurerei erledigter Mensch: »Soll ich dir einen blasen?« Gleich ums Eck könnte sie mir eine Express-Fellatio verpassen. »Wieviel?«, will ich wissen. Und die Erledigte: » Just five .« Das könne hinkommen. Für denselben Betrag bekommt sie einen »Hit«, ein Pfeifchen voll Crack. So verbringt Debbie ihr Leben zwischen Blasen und tief Einsaugen. Einmal blasen finanziert einmal einsaugen. Wie ich sie verstehe. Wer hier leben muss, der braucht sich nicht mehr zu rechtfertigen.
    In meinem Motelzimmer finde ich noch zwei andere Glaspfeifen in der Klopapierrolle versteckt. Ein Nachlass meines Vormieters. Mein Badezimmer befindet sich ungefähr sieben Meilen von Downtown Memphis entfernt, aber die Gründe, um nach dem Trost der Droge zu greifen, sind hier nicht weniger grausam. Im Gegenteil, draußen liegt der U. S. Highway 51 South. Als ich den Rezeptionisten frage, wo ich etwas zu essen kaufen könne, meint er: » You better stay hungry .« Das hier sei eine schäbige Gegend. Ich mache mich trotzdem

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