Im Land der Freien
Probelauf für das kommende Halloween-Fest handelt, verhindert eine Nervenkrise. Schwarzen Humor, sehr schwarzen, haben sie hier, das schon.
Unerschossen und ungemäht erreiche ich das New House Hotel , ein Wrack von einer Absteige. Ben muss meine monetären Bedenken missverstanden haben, einen Hauch von Zivilisation hätte ich mir noch leisten können. » No shoes, no shirt, no service « steht an der Hoteltür. Die trauen sich. Wer diesen Stundenpuff ohne Schuhe und Hemd zu betreten wagt, muss mit Infektionen rechnen. Ich bekomme Zelle 222, nach einmal Lichtanschalten bleibt das Licht aus. Es gibt Räume, die man nur im Schutz der Dunkelheit betreten sollte. Ich lege Zeitungspapier aus und besprühe die Matratze mit Antifloh-Spray.
Nach sechs Stunden Schlaf bleibt nicht ein Grund, mich zu beschweren. Kein Tier, kein Mensch störte, der blaue Himmel strahlt durch das vorhanglose Fenster, ich darf noch heute Denver verlassen. Und in der Nähe des Bahnhofs finde ich das 20th Street Café , einen urgemütlichen Diner, wo sie diskret Platten von Pat Boone und Carl Perkins spielen und wo ältere Ladies als Bedienungen arbeiten. Gerade sie – schon über die Blüte hinaus, schon versöhnt mit der Erkenntnis, dass die meisten Träume nicht in Erfüllung gingen – schaffen eine Atmosphäre von souveräner Ruhe und Freundlichkeit.
BOULDER
Als ich den Bus um zehn nach zehn besteige, beginnt eine tagelange Glückssträhne. Ich weiß es, meine Vorfreude ist zu groß, um für die geringste Enttäuschung Platz zu lassen. Eine knappe Stunde von den Zumutungen Denvers entfernt liegt Boulder. Aufenthaltsort des Naropa Instituts, der einzigen offiziell anerkannten buddhistischen Universität in den USA und – noch mehr Freude auslösend – gleichzeitig Heim der von Allen Ginsberg gegründeten Jack Kerouac School of Disembodied Poets .
Linda sitzt neben mir, wir haben das gleiche Ziel. Seit acht Jahren wohnt sie in der 95 000 Einwohner zählenden Stadt, nach drei Jahrzehnten in New York. Sie erzählt eine unheimliche Geschichte: Wochen nach ihrem Umzug nach Boulder ging sie zum Augenarzt, um sich eine Brille verschreiben zu lassen. Sie unterzieht sich den anfallenden Untersuchungen, unter anderem auch dem Panorama-Test: Sie soll »ja« sagen, sobald sie einen grünen Punkt an der Peripherie ihres Blickfelds auftauchen sieht. Seltsamerweise erspäht sie den Punkt immer Sekundenbruchteile bevor er tatsächlich erscheint. Ärzte nennen dieses Phänomen » streetsmart in New York «: Linda hat in dieser Stadt unbewusst und permanent mit Gewalt und Verbrechen gerechnet. So ausdauernd und intensiv, dass ihr inneres Radarsystem immer auf der Lauer lag, um jeden möglichen Angreifer frühzeitig zu erkennen. So wurde sie eben streetsmart : eine, die instinktiv und sofort die Gesetze gefährlicher Straßen erkennt.
In Boulder wird Linda dieses Talent verlernen. Schon die ersten hundert Blicke befrieden: im Westen die Flatiron Mountains, im Osten der unerreichbare Horizont der Great Plains, mittendrin eine hübsche Stadt mit ansehnlichen Fassaden, mit Radfahrern in der Überzahl, mit öffentlichen Bussen, die Fahrräder transportieren, schriftlich ausgehängten Aufrufen des Bürgermeisters zur Freundschaft mit der Natur, mit unzähligen dicken Bäumen und dem wuchernden Efeu an den Mauern der University of Colorado.
Sogar die Anzahl von Einwohnern, die mit Trainingshose über dem breiten Hintern und Lockenwicklern im Haar zum Einkaufen geht, hält sich in Grenzen. Ein stillschweigendes Gesetz zur Einhaltung der Grundregeln des guten Geschmacks und des guten Willens scheint hier umzugehen. Selbst Autofahrer hupen weniger oft unzüchtig, bremsen, verfügen über die Kraft zur souveränen Handbewegung, die dem Fußgänger den Vortritt anbietet.
Und eine Innenstadt haben sie hier, die auch nach Geschäftsschluss nicht tot liegenbleibt und noch um Mitternacht ohne Patronengürtel und Handgranaten betretbar ist. Cafés stehen offen, locken. Wo Frauen und Männer Zeitungen und Bücher lesen, wo Schriftsteller und Dichter ihre handlichen Computer auspacken, wo kein von MTV inszenierter Musikantenstadl die Ohren zertrümmert.
Hier will man hinein. Weil einer der verrückten Idee erliegt, den Ort wieder bereichert zu verlassen. Und wäre es nur, weil ein » Healing Guide « ausliegt, der auf 125 Seiten Therapievorschläge unterbreitet, darunter einen Kurs » for better sexual loving « anbietet. Dazu die Hohe Schule asiatischer Liebeskunst
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