Im Land der Freien
Wo immer man sich hinstellt, hört man das Geräusch eines vorbeifließenden Bachs. Vor dem Hauseingang muss man einem Baum ausweichen. Alles auf Erdgeschosshöhe, die Küche, der Arbeitsraum, der king size futon , das Bad einer Frau, in jedem zweiten Eck eine Trommel, der mit Kacheln bedeckte Fußboden, kein Fernseher. Ein Heim ohne falsche Nebengeräusche. Es ist schon eine gewisse Zeit her, dass ich eine Wohnung betrat und nicht den impulsiven Wunsch verspürte, nach den Gelben Seiten zu suchen, um den Sperrmülldienst zu bestellen. Die warmen Farben stimmen, wie auch die wenigen leichten Möbel. Unschwer zu erraten, dass hier jemand zu Hause ist, der vor nicht langer Zeit einzog und nicht für immer hierbleiben wird. Zwei Dutzend Umzüge hat sie bereits hinter sich. Zuletzt reiste sie aus Honolulu an.
Bis ein Uhr morgens machen wir keinen Fehler. Bevor wir auseinandergehen, holt sie eine Polaroid-Kamera hervor und knipst meinen Oberkörper. Das muss sein, denn sie will mich beschützt wissen. Bei Laura B. in Santa Fe heißt das: Sie schiebt das entwickelte Foto in einen flachen Kasten (nicht größer als ein kleines Kofferradio), dreht an mehreren Knöpfen und stellt ihn damit auf meine Energie und meinen Bedarf an fremder Energie ein. Der Apparat, unter dem Namen » SE-5 Radionics « im Handel, kostet saubere zweitausend Dollar. Das Prinzip beruht auf der hochwissenschaftlichen Erkenntnis, dass sogenannte IDF s, Intrinsic Data Fields , existieren, dass man Informationen – unendlich vereinfacht – ohne die bekannten physikalischen Mittel übertragen kann.
Hier und jetzt in einer warmen Herbstnacht in New Mexico geschieht somit Folgendes: Das SE-5 Radionics wird Lauras Ausstrahlung – die schwarze Box bleibt unverrückbar neben ihrem Computer – bündeln und auf das Foto, sprich: meinen Oberkörper, sprich: mein Herz, übertragen. Strahlt sie Freude aus, wird Freude eintreffen. Hätte sie nichts übrig als Kälte, würde Kälte mich heimsuchen. Als glaubensschwacher Atheist will ich mich an alles klammern, auch an befremdlich aussehende Apparaturen. Umso mehr, als Laura beim Erstellen meines Horoskops herausfand, dass das Chaos mein Zuhause ist.
Beim langen Fußweg zurück in mein Hotel – ich bestand darauf zu wandern – fällt mir die heilige Rosa ein, die jahrelang in einer Lehmhütte in Lima fastete und schließlich das Jesuskindlein sichtete. Und Buddha, der unter einem Bodhi-Baum saß und erst dann erleuchtet wurde, als er hinter allem das große Nichts zu erkennen glaubte. Und Jimmy Swaggart, der dem Herrgott auf der Interstate 10 begegnete. Und John C. Lilly, den Entdecker der Sprache der Delphine, der bei seinen LSD -berauschten Selbstversuchen »den zwei Wächtern des Universums« über den Weg lief. Und die gottlose Laura B., die vor wenigen Minuten den SE-5 Radionics angeworfen hat, um mir mehr Wärme zukommen zu lassen. Begeistert lege ich mich schlafen, nicht fassend, was uns alles einfällt, um unsere Angst zu stillen, berührt von unser aller Sehnsucht nach Zuflucht und letzter Gewähr.
Am nächsten Tag scheint mein Leben für mindestens drei Stunden perfekt. Der stille Greyhound, kein Heavy-Metal-Depp mit Walkman verpestet die Luft, der höfliche Fahrer, der intelligent Informationen durchgibt, die Welt. Größenwahnsinnig wie eh, nennen die Yankees ihr Land »Gottes eigenes Land«. Das Schwierige an dem Satz: Er stimmt so oft. Die ersten 150 Kilometer Richtung Norden, Richtung Colorado, bedrücken, so bestechend, so romantisch sieht diese Gegend aus. Eine kurvige Straße führt an allen Triumphen der Erde vorbei, an Wäldern, an Flüssen, an Seen, an Schnee auf den Gipfeln, an gedankenversunkenen Anglern auf ihren unbeweglichen Booten.
Solches Schauen erholt. Wie alle Nähe von Schönheit. In manchen Kliniken der USA gibt es keine Fenster mehr, nur noch elektronische Bildschirme, die helle Farben und Bilder ausstrahlen, um den Patienten aufzuheitern. Wohl aus der Überlegung heraus, dass ein Blick auf die Wirklichkeit amerikanischer Städte den Heilungsprozess eher verlangsamen und den armen Teufel in eine schwarze Depression schleudern würde.
Bei Einbruch der Dunkelheit beginnt die tägliche Zeitungslektüre. Ich bin immer wieder überrascht, wie anders andere Völker mit genau den gleichen Problemen umgehen. Stichwort Kinokritik. Wie einleuchtend, gewisse Filme nur für bestimmte Altersgruppen freizugeben. Ich lese da: » PG 13, violence, profanity, brief nudity «. Der Streifen
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