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Im Land der Freien

Im Land der Freien

Titel: Im Land der Freien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Altmann
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und » the secrets of erotic kissing and touch «.
    Boulder ist anarchisch. Einen Kurs anzubieten, der Zärtlichkeit und Wollust – statt banking und accounting – als Lebensprinzip vorschlägt, das ist kühn. Und wäre das Ergebnis nur, dass Joe Average seine statistisch bestätigten zwei Minuten pro Tag nicht mehr im Schnellschussverfahren hinter sich bringt, sondern als wacher Liebhaber.
    Mein erster Wunsch, Boulder zu besuchen, kam, als ich vor Jahren in Irland an einem Meditationskurs teilnahm, dessen Methode sich auf tibetische Ursprünge berief. Der Wunsch wurde unwiderruflich, als ich vor Wochen zwei kurz aufeinander folgende Zeitungsmeldungen las, die zu Heiterkeitsausbrüchen und Minuten tiefversunkenen Staunens führten. Die Rede war von dem Hollywood-Star Steven Seagal, der kürzlich von einer hohen tibetischen Autorität zu einem reinkarnierten Lama erklärt wurde. Das Heitere daran: Mister Seagal ist ein Schauspieler, der als Held mehrerer äußerst erfolgreicher »Guter-Bimbo-gegen-schlechter-Bimbo«-Filme die Welt durchaus so hirnlos und wacker aufräumte wie seine noch berühmteren, noch hirnloseren Kollegen Stallone und Schwarzenegger.
    Ich interpretierte diese Notiz als geniale Publicity-Finte made in USA zur kubikmeterweisen Vergrößerung der Bankkonten aller Beteiligten. Einen vierschrötigen Kino-Rowdy als Wiedergeburt eines Erleuchteten zu verkaufen, das ist ein starkes Stück.
    Ich beließ es dabei, bis ich Tage später wieder von Lama Seagal in der Zeitung las. Diesmal erfuhr der Leser, dass sich der Star drei Tage in Boulder am Naropa Institute aufhalten würde, um über die vier Unauslotbaren zu sprechen: Liebe, Mitgefühl, Freude und Gelassenheit. Ich wurde nervös, meine Vorurteile kamen durcheinander und ich beschloss, ihm zuzuhören.
    Ein japanischer Mönch, der 1938 in die Vereinigten Staaten kam, hielt eine Lotusblüte an einen Felsen und meinte, dass diese Blume in diesem Stein eher Wurzeln schlagen würde als im Bewusstsein des amerikanischen Volks. So aussichtslos erschien ihm das Unternehmen Buddhismus in einem Land, das die materielle Megalomanie zum Maß aller Dinge erhoben hatte.
    Das Bild des einsamen Mönchs an der Felswand hat etwas. Wenn Buddhismus auf diesem Kontinent ausbricht, dann als new fashion , als Tibet-Schick, als Motor für eine Industrie, die sofort Halden von Gerümpel herstellen wird, das anschließend als Meditationsequipment über Homeshopping zu bestellen ist. Der Bestseller wäre dann ein Liegesitz, von dem aus der interessierte Anfänger ein Video studieren kann, in dem Steven Seagal einem Unerleuchteten das Unerleuchtete herausprügelt.
    Albert Camus bemerkte einmal in seinen Reisetagebüchern, dass man die Tragik des Lebens erst nach der Erfahrung dieser Tragik zurückweisen darf. Erst wer sie gelebt hat, hat das Recht, sie zu ignorieren. Anders, so Camus, die Amerikaner. Sie drücken sich schon vorher. The Big Easy auf Biegen und Brechen, für immer und vierundzwanzig Stunden am Tag. Nicht selten fand ich am Ausgang von Restaurants einen als » Relief Center « beschrifteten Kasten, eine Art Hausapotheke mit dem freundlichen Hinweis » Keep it handy «: Pillen für jede Unpässlichkeit, von Verstopfung bis Melancholie. Diese tiefe Sehnsucht nach Schwerelosigkeit. Diese bodenlose Angst vor Schmerz. Diese standhafte Feigheit vor Einsamkeit. Der Verdacht, dass Wunden – die sichtbaren und die unsichtbaren – bisweilen einen Sinn haben, bisweilen irgendetwas mitteilen wollen, diesen Verdacht halten sie nicht aus. Er darf nicht sein, er muss weg, sofort.
    Der spanische Dichter Juan Ramón Jiménez hat seine Bücher immer der » immensa minoría «, der ungeheuren Minderheit, gewidmet. Diese Minderheit existiert überall und am schillerndsten sicher in Amerika. Keine fünfzehn Minuten Fußmarsch vom Zentrum Boulders entfernt liegt das 1974 von einem Freund des Dalai Lama, dem vor den Chinesen geflohenen Tibeter-Abt Chögyam Trungpa, gegründete Naropa Institute . Kein Prunk, kein Pomp, nur sechzehn Gebäude mit humanen Dimensionen, neben jeder Mauer ein paar Bäume und ein paar Quadratmeter Wiese, hinter jedem Fenster ein Blick in die Welt. Was beruhigt, nach den ersten zehn Minuten, nach den ersten zehn Worten: Kein Weihrauchdusel nebelt den Besucher ein. Kein spirituelles Gestelze, kein erhabenes Gesülze. Nirgends dieses kuhblöde Lächeln der ewig Glücklichen in den Gesichtern der Anwesenden. Keiner predigt, dass alles wunderschön ist, und keiner

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