Im Land der Freien
Get away « seine Dienste an. Das ist diabolisch. Denn wer sich hier niedersetzt und geradeaus blickt, der will nichts anderes als von hier abhauen. Das einzige, was hier auf menschenwarme Energie schließen lässt, ist eine unter der Bank liegende Präservativschachtel, leer und erfrischend dümmlich beschriftet: » With pride we say: Made in America .«
Ich habe eine Zeitung mitgebracht. In dieser Umgebung finde ich genau die Meldung, die hierher gehört. Ein Drogendealer wird verdächtigt, mindestens neun, wenn nicht über dreißig drogenabhängige Frauen mit HIV infiziert zu haben. Sex für Crack. Eines seiner Opfer, immerhin 15, gibt zu Protokoll: » He used his charm. He’d say: ›What’s up, Baby? Can I take you to dinner?‹ « Was lernen wir daraus? Andere Länder, anderer Charme.
Irgendwann hupt der frischgewaschene Bus. Abfahrt. Lange Stunden später sehe ich die Lichter von Las Vegas. Ein hübscher Zufall will, dass ich gleichzeitig im Radio die Sendung »Brennpunkt Familie« einschalte. Der christliche Sender findet die richtigen Worte: »… evil over evil will come over you .« Ich weiß den Zusammenhang nicht, sicher ist der packende Satz eine Anspielung auf die nahe Stadt. Bald werde ich wissen, dass es die falschen Worte sind. Teuflisch ist in Las Vegas überhaupt nichts. Ach, wenn doch nur.
Vom Terminal aus bestelle ich kurz vor Mitternacht ein Zimmer. Das klappt. Was auffällt, ist der höfliche Mensch am anderen Ende der Telefonleitung, der mich trotz meines Hinweises, dass ich allein komme, fragt, ob ich ein oder zwei Betten benötige. Zehn Minuten später weiß ich den Grund der seltsamen Frage. Ich stehe in der Lounge des Circus Circus Hotel am Ende einer drei Schleifen langen Schlange von gut hundert ballondicken Kugelmenschen, jeder einzelne viel zu pneumatisch, um in nur einem Bett Platz zu finden. Durchaus passend dazu die überall aushängende Eigenwerbung des Hotels, die auf »tausend neue Betten«, größer und breiter denn je, hinweist. Jetzt kann der Bunker insgesamt dreitausend fatties beherbergen.
Als ich das Licht in meinem Zimmer einschalte, geht gleichzeitig der Fernseher an. Damit nicht das Bedrohlichste ausbricht, was im Umfeld eines modernen Menschen ausbrechen kann: Stille. Und bräche sie auf dem sechs Sekunden langen Weg von der Tür bis zur Fernbedienung aus. Stille scheint angsteinjagender als 120 Dezibel.
Das ist eine Windel-Society. Jedem in diesem Land werden ununterbrochen die Windeln angelegt. Schon ein simpler Telefonanruf ohne die aufdringliche Hilfe eines operator scheint nicht machbar. Wer ein Restaurant betritt – und sei es drittklassig –, muss warten, bis ihn ein hauptamtlich dafür angestellter Mitmensch an einen Tisch führt. Und sei der Raum leer. Das alleinige Auffinden eines freien Platzes scheint nicht zumutbar. Bevor ich mein Zimmer betrete, bin ich verpflichtet, die Sicherheitshinweise zu lesen. Fürsorgliche Belagerung, kein Atemzug ohne den entsprechenden Sicherheitshinweis.
In meinem Nachtkästchen liegen die Gelben Seiten. In allen Hotelzimmern Amerikas haben sie wohl nur einen Zweck: die Auflistung der ortsansässigen Huren. Da nun die Hurerei in Clark County – und hier liegt Las Vegas – verboten ist, müssen die Ladies und Gentlemen als » private dancers « annoncieren. Oder als » prestige talkers « und » college roommates «. Ich zähle nach und komme auf 886 Agenturen (mit wie vielen Agenturmitgliedern?), die vierundzwanzig Stunden am Tag bereit sind, die zahlreiche Klientel mit dem einen und einzigen zu versorgen.
Neben den Gelben Seiten wartet die Heilige Schrift. Das ist das Schöne an Amerika: die Scheinheiligkeit neben der Heiligkeit. So hat jeder seinen Frieden, auch Mister Kennen, der mir an der Rezeption ausdrücklich versicherte, dass es sich um ein familienfreundliches Hotel handelt.
Las Vegas ist schon etwas Besonderes. Sicher eine der wenigen Städte der Welt, deren Yellow Pages zwei Arten von Buchhandlungen aufweisen: adult books , das sind Buchhandlungen, die Bücher für Männer anbieten, in denen immerzu Fotos von nackten Frauen auftauchen. Und books : Darunter werden jene Buchläden aufgelistet, die Bücher verkaufen, in denen kaum nackte Frauen zu finden sind. Folglich anstrengende Bücher, die man tatsächlich lesen muss.
Las Vegas ist ein Prüfstein. Hier wird einer erfahren, was an Menschenfreundlichkeit und Toleranz in ihm verborgen ist. Wer hinterher noch immer das Göttliche, das wunderbar
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