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Im Land der Freien

Im Land der Freien

Titel: Im Land der Freien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Altmann
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ihn anzugreifen. Natürlich Freiwillige, die selbst Aikido unterrichten, am liebsten sensei , die Meister. Schon beneidenswert, wenn man einem zuschauen darf, der mit extremer Körperbeherrschung und großem Gleichmut gleichzeitig drei ausgewachsene Männer auf die Matte befördert, Sekunden später erklärt, wie er sie dorthin befördert hat, sich anschließend gelöst wieder hinsetzt, wieder eine Schale Tee zu sich nimmt und einmal mehr darauf hinweist, dass die vier Unauslotbaren – Liebe, Mitgefühl, Freude und Gelassenheit – unser aller Ziel sein sollten.
    Über einen anderen in dieser Stadt muss ich noch berichten. Selbst für den halben Lotussitz ist er zu rund. Und zu leichtsinnig, um nur auf die Idee zu kommen, irgendwelche Verteidigungsgriffe auswendig zu lernen. Samuel Beast – mit vollem falschen Namen – sitzt in der Sonne der Rocky Mountains und verkauft seine handgebundenen Gedichte. Jedem, der vorbeigeht, schaut er in die Augen. Diejenigen, die zurückschauen, spricht er an. Der Neunundfünfzigjährige sieht aus wie ein neunundfünfzigjähriger Bär, lieb, tapsig, eher beschützend. Papiergefaltet und mit einer hübschen Tuschezeichnung versehen, liegen seine zwei, je acht und zwölf Gramm leichten, Werke für fünf Dollar das Stück vor ihm auf dem Tischchen. Sie tragen die pompösen Namen »Die Geburt des Jetzt« und »Aphrodisia«.
    Die Mutigsten, die Großzügigsten, also diejenigen, die es riskieren, zehn Minuten lang abzulassen von der fixen Idee, sie müssten irgendetwas jetzt und sofort erledigen, setzen sich und lauschen dem Bär und seinen spinnösen Träumen. »Knüttelverse« nennt er seine Dichtungen lässig. Wenn so etwas funktioniert – jemanden mitten an einem Werktag zum Anhören von Versen zu verführen –, dann nur in Orten wie Boulder. Da aber Samuel seine deftigen Knüttelverse selbst vorträgt, fällt das Verführtwerden leichter.
    Viel Erotik – »…  your tips received my kisses / as trees receive breezes  …« – kommt vor. Das berührt umso mehr, als im Leben von Samuel Beast so viel Erotik nicht mehr vorzukommen scheint. Er liegt also ganz im postmodernen Trend: Liebe und Sex werden nicht mehr gelebt, nur noch erinnert oder angekündigt. Oder: Liebesgedichte sind teuer, oft kosten sie die Liebe. Wer liebt, schreibt nicht. Und wer nicht liebt, schreibt über die Liebe, zu der er nicht imstande ist. Notiert Samuel, was er versäumt?
    Ein ziemlich bürgerliches Dasein liegt hinter ihm. Er versteht noch immer nicht recht, warum er so viel Zeit benötigte, um es unerträglich zu finden und wegzuwerfen. Er erzählt von seiner depressiven Mutter, die ihr eigenes Leben auf der Suche nach ihrem Prince Charming versäumte. Er sieht sie versunken auf einer Couch sitzen, hingerafft von einer Überdosis Träume, die nie Wirklichkeit wurden. Der Märchenprinz kam nicht, dafür ein unglaublich normaler Mensch, den sie heiratete und den sie für den Rest der gemeinsamen Existenz für ihre Niederlagen verantwortlich machte.
    Samuel wird verschwitzter Vertreter im Druckgewerbe: wie Dinge anbieten, wie den potenziellen Kunden einlullen, wie alle Kaufwiderstände überwinden? Ein Beispiel: Der zögernde Kunde sagt am Ende des Gesprächs den härtesten Satz, den ein Verkäufer aushalten muss: »Ich kann es mir nicht leisten.« Wie mit einer solchen Bankrotterklärung umgehen? Ganz einfach: Schuldgefühle erzeugen, also gefasst und trocken einen Satz wie den folgenden loslassen: »Sie allein müssen entscheiden, was Ihnen wichtiger ist, Ihr Geldbeutel oder die Erziehung Ihrer Kinder.«
    Für Jahre verschleudert Samuel die berühmte Encyclopedia Britannica . Nicht begabt, nicht unbegabt, eben mühsam und lauwarm. Eines Tages trifft er den abgefeimtesten Vertreter der Truppe, den Mann mit der seit langem besten Verkaufsbilanz. Er fragt, ob er ihn einmal begleiten dürfe, er wolle sehen, wie ein Champion es anstellt. Und der Champion sagt Ja, sie ziehen los.
    Eine rasante Story folgt. Sie läuten an der nächstbesten Wohnungstür, man öffnet, sie stellen sich vor, der Hausherr führt sie ins Wohnzimmer, dessen eine Tapete groß mit » JESUS SAVES « beschriftet ist. Das fromme Paar hört interessiert zu, bald liegen die Papiere zur Unterschrift bereit, der Weltmeister fragt noch, ob sie die Ausgabe in Weiß oder in Rot gebunden haben wollen. Und da passiert es. Der Ehemann gesteht: »Wir erwerben nichts, ohne vorher den Herrn zu befragen.« Jeder mittelmäßige Vertreter würde nun

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