Im Land der Freien
auf den Weg zur vier Kilometer entfernten Busstation. Irgendwer verkündete den genialen Satz: » You don’t drink the beer, you drink the advertising .« Wahrer geht’s nicht.
An einem Sonntagnachmittag durch die Wüstenhitze von Las Vegas marschieren, ich will mich nicht schonen. Wut macht produktiv. Plötzlich erinnere ich mich eines Gedichts von Rainer Malkowski, in dem er über »Sonntagsspaziergänger« schreibt. Arme Teufel, paarweise, als Großfamilie oder mutterseelenallein, die nicht wissen, wie die Zeit totmachen am Tag des Herrn. Und die in immer kürzeren Abständen nach oben blicken: ob denn nicht – Herr, erlöse uns – endlich Regen fällt, um wieder nach Hause vor die Glotze rennen zu dürfen.
Aber in Las Vegas fällt kein Regen. Und hier spazieren nicht missmutige Europäer, sondern gutgelaunte Amis, die nicht gehen, sondern die Stadt durchfahren und bei offenen Autofenstern die Welt an ihrer neuesten Quadrophonie-Anlage teilhaben lassen. Nichts fehlt zum fehlerlosen Glück, an jedem dritten Straßeneck hängen bunte Riesenfotos von » Alaskan King Crab Legs « und » One Pound New York Steaks «. Polizisten auf Fahrrädern grinsen. Die Mountain-Bikes seien praktischer bei den sperrigen Menschenmassen, heißt es. Einmal sehe ich sie auf ein Gebäude zusprinten, die Räder hinwerfen und die Pistolen ziehen. Hinterher passiert nichts. Stille. Vielleicht eine kleine Showeinlage für das internationale Publikum? Ein Dutzend Bullen mit Fahrradhelmen und nach vorn gestreckten Waffen umlagern eine düstere Lagerhalle, das sieht nicht schlecht aus.
Noch eine zweite Spezies von Radfahrern existiert in dieser Stadt. Das sind die Tagelöhner, die auf ihren Gepäckträgern Stöße von voluminösen Heftchen transportieren, vor jedem der Hunderten von Zeitungskästen auf den Trottoirs halten, den Rest rausräumen, dann nachfüllen: neue, dicke Schmuddelhefte mit vielen Nackten, schwarze Zensursternchen auf dem golden triangle . Somit erfährt der interessierte Leser unter anderem, dass die Chicken Farm einen kostenlosen Limousinen-Zubringerdienst vom Flughafen zum Hühnerhof-Bordell anbietet. Eine der Damen spreche sogar sechs Sprachen, wobei Spanish fettgedruckt ist. Das kann nichts anderes bedeuten, als dass mexikanische Geschlechtsteile – die naheliegendsten – besonders willkommen sind. Auch Behinderte sollen sich trauen, man sei voll ausgerüstet.
Ich gebe zu, dass diese beiden Worte in diesem Zusammenhang so manchen Nebengedanken entfesseln. Man hätte schon gern gewusst, wie ein behindertengerecht ausgerüstetes Pufflager aussieht. Dass es das alles gibt, gut so. Ein jeder, aber wirklich ein jeder, hat das Recht auf den Duft einer zarten Haut. Und müsste er dafür seine Mastercard herausziehen. Noch der bezahlte Geruch ist menschlicher als ein Dasein ohne jede Nähe.
Es gibt Tage, da fliegt man aus der Kurve. Und kein Gegensteuern rettet. Ohnmächtig muss man zusehen, wie das Leben abstürzt. Mit bravouröser Zielgenauigkeit führt einen das Unbewusste an die falschen Plätze, zu den falschen Zeitgenossen. Dabei irrt es sich nie. Dass mein Blick ausgerechnet auf eine Shell-Tankstelle fällt, bei der das große »S« fehlt, es wundert mich nicht mehr. Hell , es stimmt so genau.
Neben der Greyhound-Station – endlich bekomme ich eine brauchbare Information – steht der Eingang zum Fremont Street Experiment , dem von Casinos (» More Casino Fan «), Würstelbuden (» Dinners for Winners «) und Teddybär-Boutiquen dichtestbesiedelten Ort auf dem Planeten.
Ich nehme noch keine zwei Minuten an diesem nervenzerfetzenden Experiment teil, als ein Typ – Mitte fünfzig, hautkrank und den stieren Blick des Entschlossenen in den Augen – auf mich zukommt und mir ein Langnese-Eis anbietet. Blitzschnell vermute ich, dass er aus dem Jesus-ist-die-Antwort-Kirchlein kommt, das in unmittelbarer Nähe steht, glaube noch, dass es sich um einen Akt spontaner Großzügigkeit handelt, und frage naiv: » Why? « Und der Hautkranke: » I want to fuck you .« Er muss meinen elenden Gesichtsausdruck gesehen haben, anders wäre er nicht auf die Idee gekommen, mich für miserable 39 Cents ums nächste Hauseck ziehen zu dürfen. Beleidigt wandere ich zurück zu meinem Hotelzimmer. Dort steht ein Tisch zum Lesen und Schreiben. In seiner Nähe will ich heilen.
Aber ich mache noch einen Fehler. Verschwitzt komme ich an. Um mich zu entspannen, schalte ich den Fernseher ein. CNN – » the world’s news leader «. Der
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