Im Land der Freien
halten, was er will. Aber ich begreife während der zwei Stunden, in denen ich dem Amerikaner, den vier Amerikanerinnen und der Australierin zuhöre, dass sie auf geradezu unverschämte Weise privilegiert sind. Ein paar Jahre dürfen sie Worte ausprobieren, dürfen sich auf nichts anderes konzentrieren als auf den feudalen Luxus, das exakte Wort zu finden. Konzentriert sich die Mehrheit der Studenten des Landes auf Wirtschaftsstudiengänge, um später einmal exakt ausrechnen zu können, wie viele Stoßdämpfer und Gemüsemixer das Volk braucht, so reden sie hier über ihre mitgebrachten Gedichte, hören Vierteltöne, feilen an Nuancen und fürchten sich wohl alle vor dem herrischen Satz von Mark Twain, der uns wissen ließ, dass der Unterschied zwischen dem richtigen Wort und dem beinahe richtigen Wort derselbe ist wie der zwischen einem Blitz und einem Glühwürmchen.
Und sie wissen, dass sich – statistisch gerechnet – keiner von ihnen einmal von der Poesie ernähren wird. Auch nicht von Prosa. Sie werden – wenn sie ihn verkraften – einen brauchbaren Kompromiss finden und ihren ästhetischen Sinn für Sprache und ihren Master of Fine Arts als Herausgeber einsetzen, als Lehrer an einer Universität oder als einer, der die geduldige Kunst des Lesens versteht: als Lektor. Interpretiere ich zwei, drei Nebensätze von Anselm Hollo richtig, agiert er hier auch als Mahner, der zum reality check aufruft: damit keiner aus Liebe zur Sprache erblindet und die Wirklichkeit aus den Augen verliert.
Am Wochenende ist Steven Seagal in Boulder. Auf Einladung des Naropa Institute wird er zum Thema »Mitgefühl und die Seele des Kriegers« einen Vortrag halten. Man ist auf zwiespältige Weise überrascht, der Mann hat ein paar starke Erfahrungen hinter sich. Ende der sechziger Jahre geht er als Zwanzigjähriger nach Japan, probiert Zen-Meditation, besucht verschiedene Klöster, studiert Buddhismus und Akupunktur, fängt an, Aikido zu trainieren: Das ist eine Kampfkunst, die ihr legendärer Erfinder, der Japaner Morihei Ueshiba, als »die Kunst des Friedens« vorstellte. Rein defensiv, eine Frage der Konzentration, des Timings, der inneren Balance. Ueshiba: »Das Geheimnis von Aikido ist nicht, wie du deine Füße bewegst, sondern deinen Geist.« Als Seagal nach Amerika zurückkehrte, begann seine Karriere als Star schwachsinniger Kinofilme. Seine Karriere als Buddhist, der vier Stunden pro Tag im Lotussitz nach Gewaltlosigkeit und tieferer Erkenntnis lechzt, entging dem breiten Publikum. Das große Hohngelächter setzte erst ein, als er von Seiner Heiligkeit Penor Rinpoche als Lama geoutet wurde. Die hartnäckigsten Zyniker behaupteten gar, ein Haufen Schmiergeld sei im Spiel gewesen, um sich den tibetischen Heiligenschein aufs Haupt setzen zu dürfen.
Der Saal wird voll. Vielleicht dreihundert Interessierte, die meisten sind Schüler verschiedener Kampfsportarten, wollen den Aikido-Meister sehen. Seagal enttäuscht nicht, auch nicht die Lästermäuler. Das schwarze Haar wie immer nach hinten zum Pferdeschwanz gebunden, Jeans und darüber ein weites orientalisches Hemd. Er wirkt gefasst, trinkt Tee, redet unaufgeregt und klar, beantwortet Fragen. Er sieht selbst den Widerspruch zwischen seinen Filmen und den spirituellen Ansprüchen, nach denen er zu leben vorgibt. Aber er war unter Vertrag bei Warner Brothers, die ihn ausschließlich für Actionfilme einsetzen wollten, was heißen soll: pro neunzig Minuten eine Mindestzahl wüster Schlägereien, eingerahmt von einer stattlichen Reihe fulminanter Explosionen und komplikationsloser Erschießungen. Der Vertrag sei jetzt zu Ende, er wolle sich in Zukunft stärker in seiner Arbeit als Buddhist profilieren, wolle einen Film über Tibet drehen und endlich Produkte anbieten, die den Menschen Besinnung und Freude brächten.
Wer weiß, ob Steven Seagal nun ein gerissenes Schlitzohr ist, das seine heiligen Sprüche hernimmt, um sich ein paar zusätzliche Headlines zu verschaffen. Dass er Widersprüche überhaupt wahrnimmt und sie nicht sarkastisch wegredet, soll als Pluspunkt gelten. Entschieden einfacher lassen sich jedoch seine Fähigkeiten als Aikido-Kämpfer nachprüfen. Es kommt zu verblüffenden Szenen. Mit seinem japanischen Freund, mit dem er sich fließend in dessen Sprache verständigt, demonstriert er zuerst verschiedene Verteidigungspositionen.
Der Gipfel der Virtuosität kommt aber erst, als Seagal – wiederholt – Freiwillige aus dem Publikum nach vorn bittet, um
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