Im Land der Freien
Verrätern des Diesseits, die boshaft auf alle Leichtigkeit spucken.
Millers Bücher besaßen so vieles, wonach wir damals so notwendig, so notwendend verlangten. Mit dem Presslufthammer hatte es Henry – Henry, der Elektrisierer und Einreißer – aufgeschrieben: Hingabe an dieses eine Leben, Mut zur Angst, Neugier auf alles. Und das Forderndste: Bereitschaft für die Wunden, die dunklen Tage und Nächte, die das Einklagen persönlicher Freiheit forderte.
Er, der sich erst mit neunundachtzig zum Sterben bereit erklärt hatte, hinterließ ein unschätzbares, gefährliches Erbe. Eben den Wert des schieren, Tabus verlachenden Lebens, eben eine Moral des Starkseins und Gefährlichlebens, die Moral einer Existenz auf Teufel komm raus.
Ich kenne alle Wohnorte Millers. Natürlich die Nummer 4, Avenue Anatole France in Clichy, einem Vorort von Paris. Ein Nachbar, der rührige Monsieur Jouffroy Renault, zeigte mir die Stelle, wo das Häuschen stand, in dem der Amerikaner mit seinem Freund, dem österreichischen Journalisten Alfred Perlès, lebte. Und waren die Tage still in Clichy, dann nur, weil die beiden nachts umso heftiger um die Wette vögelten. Am Tag der klanglosen Veröffentlichung seines Tropic of Cancer zog der weiterhin bankrotte Schriftsteller in den Süden von Paris, in die Privatstraße »Villa Seurat«. Die Bewohner des Anwesens hätte ich standrechtlich auspeitschen können, so fad und ohne Eifer erinnerten sie sich an die Tatsache, dass hier einmal ein schreibender Hüne zu Hause war.
Als ich in New York lebte, lief ich durch die Straßen Brooklyns, um letzte Spuren zu sichern. In der Driggs Avenue 662 – der Adresse, wo Henry fast die ganzen ersten neun Jahre über mit seinen Eltern lebte – wurde ich für alle Ignoranten entschädigt. Die Besitzer Denny T. und Nancy W. – beide Maler – zogen mich hinein, vier Stunden reichten uns nicht, um uns alles über die Vormieter zu erzählen. Ich musste jeden Winkel inspizieren, die Holzstiegen hinauf, mich an den berühmtesten Fensterplatz New Yorks setzen: da, wo der Sechsjährige auf den Fillmore Place blickte und von den Geheimnissen der Straße zu träumen begann.
Zwangsernährt mit polnischen Wurst-Sandwiches, dunkelblau vom Glück und einer halben Flasche Campari, taumelte ich spätnachts hinaus. Breitbeinig ging ich durch zertrümmerte Viertel zurück nach Manhattan. Keiner konnte mir beikommen, ich hatte gerade geweihte Erde verlassen, ich leuchtete.
Dieser Abend diente als Vorschuss. Die restlichen Aufenthaltsorte Millers waren rasiert, auch der Lampenpfahl, an den er sich lehnte, um in der Devoe Street auf die gegenüberliegende Hauswand zu starren. Dahinter wohnte Cora Seward, seine erste Liebe. Hundsgemein platonisch, denn Henry strahlte erst als late bloomer , als einer, der spät blüht: mit seinen Talenten, bestaussehende Frauen zu versuchen und ein paar Tausend Seiten Papier mit Feuer und Schwert zu bedecken. Wie folgerichtig, keine seiner ehemaligen Behausungen steht unter Denkmalschutz. Schon verständlich, wenn das redliche Bürgervolk nicht an einen erinnert werden will, der ihre Tugenden abschaffen wollte.
Am Occampo Drive 444 in Pacific Palisades, nahe Los Angeles, kam ich auch einmal vorbei. Hier lebte er zuletzt. Seit sechs Jahren war er tot. Und wären es sechzig gewesen, es hätte nicht weniger überrascht. » Henry Miller? Who’s this guy? A musician? « Zwei Straßen weiter wusste niemand von seiner Adresse. Da könnte Goethe im Erdgeschoss wohnen, sie würden ihn souverän übersehen. Ich musste den Chefredakteur der Lokalzeitung anrufen, um ans Archiv verwiesen zu werden und Millers Adresse zu erfahren.
Tumbe Spießer hatten das Haus inzwischen in Besitz genommen. Ein einstöckiges Anwesen, an dessen Frontfenster der Vorbesitzer einmal » Nirvana Needed « gepinselt hatte und in dessen Wohnzimmer er mit den schönen Nackten der Umgebung Pingpong spielte. Und nicht Henrys Rennrad – lange zuvor von einem deutschen Sechstagefahrer erworben – stand vor der Tür, sondern anderthalb Tonnen Blech, die drei heiligsten Kühe der jetzigen Bewohner. Nirgends der Geruch von Papier, von Büchern, von Wissen, von berstenden Lachkrämpfen. Nicht hundert Dollar für eine handtellergroße Plakette hatte die Gemeinde investiert, um eines Mannes zu gedenken, den Schreiber wie T. S. Elliot, George Orwell, Ernst Jünger, Raymond Queneau und Samuel Beckett als literarischen Leuchtturm feierten.
Dieser Nachmittag war nicht verloren.
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