Im Land der Kaffeeblüten (German Edition)
Kindergärten aufbauen oder den Regenwald schützen oder Tiere retten – ich bin mir noch nicht sicher.«
»Ich kann beim besten Willen nicht nachvollziehen, warum jemand freiwillig nach Guatemala geht.« Julia schien sich zu bemühen, ihre Worte nicht zu hart klingen zu lassen. »Du willst also nicht hierbleiben? Hier in Deutschland? Ohne Kriminalität? Und ohne Schlangen? Und ohne Armut?«
»Hallo?! Wo lebst du denn?« Isabell sprang auf und zählte die Fakten an den Fingern ab. »Erstens gibt es auch in Deutschland Verbrechen. Zweitens sind Schlangen eher scheu und beißen nur, wenn sie sich angegriffen fühlen. Und drittens: Bist du noch nie durch die Bremer Fußgängerzone gegangen?«
»Wieso?«
»Sind dir da noch nie die vielen obdachlosen Menschen aufgefallen? Oder die Bettler?« Isabells Stimme wurde immer lauter. »Liest du nie Zeitung? Oder nur die Schönheitstipps?«
»Ich kenne die Statistiken.« Julia stand auf, damit sie auf einer Höhe mit Isabell war. »Aber Armut in Deutschland ist etwas anderes als Armut in Zentralamerika. Oder willst du das bestreiten?«
»Schon gut.« Isabell hob halb abwehrend, halb entschuldigend die Hände. »Es tut mir leid. So reagiere ich immer. Weil … na ja, die meisten Menschen sehen nur das Schlechte in Mittelamerika.«
»Was ist denn so toll an Guatemala? Der Bürgerkrieg? Vulkanausbrüche? Kinderarbeit?« Julia setzte sich wieder hin. »Die Landschaft mag ganz schön sein, aber der Preis dafür sind Schlangen, Taranteln und Überfälle. Selbst das Auswärtige Amt rät bei einem Urlaub in Guatemala zur Vorsicht.«
»Die Nebelwälder. Der Atitlán-See im Morgengrauen. Der Sonnenuntergang bei Flores. Der Gesang der Vögel.« Isabell versank in ihren Erinnerungen. Ihre Augen sahen durch Julia hindurch. Wie sollte sie Guatemala jemandem erklären, der noch nie dagewesen war? »Wenn du unglaublich lange still gesessen und gewartet hast und dann den Quetzal siehst …«
»Ich habe Fotos gesehen.« Julia zuckte mit den Schultern. Sie schien nicht wirklich beeindruckt zu sein. »Ein hübscher Vogel.«
»Fotos können dir nicht zeigen, wie sich die Sonne in der Schwanzfeder spiegelt, wie sie grün aufleuchtet, heller als jeder Edelstein.« Plötzlich schwieg Isabell und kratzte sich am Kopf. »Oh Mann, ich höre mich total kitschig an. Man muss es erleben. Selbst Filme lassen dich das Land nicht spüren. Diskussion beendet. Lass uns lieber überlegen, wie wir weitermachen.«
»Okay. Aber irgendwann möchte ich mehr über Guatemala hören. Von einer Expertin.«
22
»Ich bin der Assistent von Professor Nahnsen. Sie hat ein Freisemester.« Der junge Mann hob entschuldigend die Schultern. Seine hellbraunen Haare strubbelten in alle Richtungen. Irgendwie niedlich, dachte Julia. »Ich heiße Florian Weitbrecht. Kann ich euch helfen? Duzen ist okay, oder?«
»Klar.« Isabell lächelte. »Mein Name ist Isabell Pötter. Das ist Julia Linden. Wir … also … wir studieren hier nicht.«
»Ähm. Wo studiert ihr denn? Wollt ihr hierher wechseln?« Florian Weitbrecht blinzelte sie mit seinen ungewöhnlich grauen Augen an. »Soll ich euch etwas über die Bedingungen unseres Bachelor-Studiengangs erzählen?«
Julia spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. Wenn der Typ nur nicht so süß wäre. Dann wäre das alles nicht so … so peinlich. Was machten sie überhaupt hier? Schließlich ging es ja nur um eine Projektarbeit.
»Wir studieren überhaupt nicht«, platzte Julia schließlich heraus und erntete dafür einen kritischen Blick von Isabell. »Wir schreiben eine Projektarbeit zu Guatemala. Um 1900. Und brauchen noch Hintergrundinformationen …«
»Spannendes Thema. Was genau interessiert euch?« Florian legte den Kopf schief. »Ich tippe mal, ihr seid hier wegen unseres Kaffeebauernprojekts, oder?«
»Genau«, antwortete Isabell gedehnt. »Unsere Lehrerin hatte die Idee, irgendwas mit Kaffeehandel zurJahrhundertwende zu machen. Also nicht dem Millenium. Der alten. Vom 19. zum 20. Jahrhundert.«
»Und wir beschäftigen uns mit unseren Familiengeschichten. Weil wir festgestellt haben, dass unsere Ururgroßmütter beide in Guatemala waren und sich auch noch kannten.« Julia bemühte sich um ein lockeres Lächeln, aber fürchtete, dass ihr das gründlich misslang. Florian machte sie irgendwie nervös. Und jetzt plapperte sie auch noch total dämlich. »Margarete Seler und Elise Hohermuth.«
»Margarete Linden, so hieß sie doch nach ihrer Heirat, oder? Über sie
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