Im Land der letzten Dinge (German Edition)
bleiben, dann stell dir vor, welche Folgen unzulängliches Schuhwerk haben muss. Und nichts greift Schuhe schlimmer an als Nässe. Alle möglichen Probleme sind die Folge: Blasen, Entzündungen, Hühneraugen, wunde Stellen, Missbildungen – und wenn das Gehen schmerzhaft wird, ist man so gut wie verloren. Ein Schritt und noch ein Schritt und wieder einer: so lautet die goldene Regel. Wer nicht einmal das mehr fertigbringt, kann sich genauso gut auf der Stelle hinlegen und den letzten Atemzug tun.
Aber wie soll man dem Regen entgehen, wenn er jederzeit zuschlagen kann? Oft genug, viel zu oft befindet man sich im Freien, zieht durch die Gegend, um notgedrungenerweise irgendwo hinzukommen, und plötzlich verdunkelt sich der Himmel, stoßen die Wolken zusammen, und schon ist man nass bis auf die Haut. Schafft man es, gleich zu Beginn des Regens einen Unterstand zu finden und für diesmal verschont zu bleiben, muss man immer noch äußerst vorsichtig sein, wenn der Regen aufgehört hat. Dann heißt es nämlich, auf die Pfützen zu achten, die sich in den Mulden des Pflasters bilden, auf die Seen, die sich zuweilen aus den Spalten ergießen, und auf den Schlamm, der knietief und trügerisch von unten heraufquillt. Bei dem schlechten Zustand der Straßen mit ihren vielen Sprüngen, Kratern, Narben und klaffenden Rissen ist solchen Unbilden schlichtweg nicht zu entkommen. Früher oder später kommst du garantiert an eine Stelle, wo dir keine Wahl mehr bleibt, wo du von allen Seiten eingeschlossen bist. Und du musst nicht nur auf den Boden achten, auf das, was deine Füße berührt, sondern auch auf das, was von oben herabkommt, auf das Wasser aus den Dachrinnen und, noch schlimmer, die heftigen Winde, die häufig dem Regen folgen, die wütenden Luftwirbel, die über Seen und Pfützen fegen, das Wasser aufpeitschen und es wie kleine Nadeln oder Pfeile vor sich hertreiben, die einem ins Gesicht stechen und einen umtosen, dass man nichts mehr sehen kann. Kommt nach einem Schauer Wind auf, stoßen die Leute häufiger zusammen, gibt es mehr Schlägereien auf den Straßen, liegt gleichsam Gefahr in der Luft.
Es wäre eine gute Sache, wenn man das Wetter mit einiger Genauigkeit vorhersagen könnte. Dann ließen sich Pläne machen, man wüsste, wann die Straßen zu vermeiden wären, und könnte sich auf Wetterwechsel einstellen. Aber hier kommt alles viel zu schnell, die Veränderungen sind zu abrupt, was im Augenblick noch gilt, gilt im nächsten schon nicht mehr. Ich habe viel Zeit damit vergeudet, am Himmel nach Zeichen zu suchen, in der Atmosphäre Hinweise auf Umschwünge zu entdecken: Farbe und Schwere der Wolken, Geschwindigkeit und Richtung des Windes, Gerüche zu allen möglichen Zeiten, Struktur des Nachthimmels, Ausdehnung der Sonnenuntergänge, Fülle des Morgentaus. Aber nichts davon hat mir je geholfen. Dies mit jenem in Beziehung zu setzen, eine Verbindung zwischen einer Nachmittagswolke und einem Abendwind herzustellen – dergleichen führt bloß in den Wahnsinn. Man kreiselt im Strudel seiner Berechnungen, und genau in dem Augenblick, da man überzeugt ist, dass es regnen wird, entschließt sich die Sonne, den ganzen Tag lang zu scheinen.
Das heißt also, man muss auf alles vorbereitet sein. Nur gehen die Ansichten darüber, wie man sich am besten zu verhalten habe, drastisch auseinander. Eine kleine Minderheit zum Beispiel ist der Überzeugung, schlechtes Wetter komme von schlechten Gedanken. Eine ziemlich mystische Art, das Problem anzugehen; bedeutet es doch, dass Gedanken direkt in Ereignisse der physischen Welt umgesetzt werden können. Folgt man diesen Leuten, produziert ein dunkler oder pessimistischer Gedanke eine Wolke am Himmel. Haben ausreichend Leute zur gleichen Zeit trübe Gedanken, beginnt es zu regnen. Hierin sehen sie den Grund für all die bestürzenden Wetterumschwünge und die Tatsache, dass noch niemand eine wissenschaftliche Erklärung für unser bizarres Klima zu geben vermocht hat. Sie glauben das Problem lösen zu können, indem sie auch unter den traurigsten Umständen eine unerschütterliche Heiterkeit bewahren. Keine mürrischen Mienen, keine tiefen Seufzer, keine Tränen. Man nennt diese Leute die Lächler, und in der ganzen Stadt gibt es keine unschuldigere oder kindlichere Sekte. Ließe sich die Mehrheit der Bevölkerung zu ihrem Glauben bekehren, davon sind sie überzeugt, so würde das Wetter sich endlich stabilisieren und somit das Leben erträglicher werden. Daher betätigen
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