Im Land der letzten Dinge (German Edition)
sie sich mit Eifer als Missionare, suchen ständig nach neuen Anhängern; indessen macht sie die selbstauferlegte Sanftheit ihres Gebarens zu schlechten Überredungskünstlern. Nur selten gelingt es ihnen, jemanden für ihre Sache zu gewinnen, und folglich konnten ihre Ideen auch noch nicht der Prüfung unterzogen werden – da ohne eine große Anzahl von Gläubigen nicht genug gute Gedanken zusammenkommen, um sich auszuwirken. Aber dieser Mangel an Beweisen lässt sie nur umso hartnäckiger auf ihrem Glauben bestehen. Ich sehe dich den Kopf schütteln, und ja, ich stimme dir zu, diese Leute sind lächerlich und fehlgeleitet. Und dennoch eignet ihrer Argumentation, was den tagtäglichen Umgang mit der Stadt betrifft, eine gewisse Kraft – und die ist vermutlich auch nicht absurder als jede andere. Rein menschlich betrachtet sind die Lächler eine angenehme Gesellschaft, denn ihre Sanftheit und ihr Optimismus sind willkommene Gegenmittel gegen die sonst überall anzutreffende heftige Verbitterung.
Den Kontrast hierzu bildet eine Gruppierung, die man die Kriecher nennt. Diese Leute glauben, dass die Zustände sich so lange verschlechtern werden, bis wir – auf gänzlich überzeugende Weise – demonstrieren, wie sehr wir uns für unsere frühere Lebensweise schämen. Sie suchen das Heil darin, sich auf den Boden zu legen und erst dann wieder aufzustehen, wenn sie irgendein Zeichen erhalten, dass ihre Buße für ausreichend erachtet sei. Worin dieses Zeichen bestehen soll, ist Gegenstand langer theoretischer Debatten. Ein Monat Regen, sagen die einen, ein Monat schönes Wetter, sagen die anderen, und wieder andere behaupten, sie erführen es erst, wenn es in ihrem Herzen offenbart werde. Die Sekte teilt sich in zwei Hauptgruppen – die Hunde und die Schlangen. Erstere halten das Kriechen auf Händen und Knien für ein ausreichendes Zeichen der Buße, während den letzteren ausschließlich die Bauchlage dem Zweck dienlich erscheint. Oft kommt es zwischen diesen beiden Parteien zu blutigen Kämpfen – da jede die andere zu unterwerfen trachtet –, doch ist der Zulauf zu beiden recht gering, und wenn ich nicht irre, steht die Sekte kurz vor dem Aussterben.
Am Ende haben die meisten Leute ja gar keine feste Meinung zu diesen Dingen. Wenn ich sämtliche Anhänger der diversen Wettertheorien zusammenzählte (die Trommler, die Welt-Endler, die Freien Assoziierer), dürften sie kaum mehr als einen Tropfen im Ozean ausmachen. Meiner Meinung nach ist das Ganze letztendlich eine Sache des Zufalls. Was am Himmel regiert, ist Willkür, sind so komplexe und undurchsichtige Kräfte, dass kein Mensch eine vollständige Erklärung dafür finden kann. Wird man vom Regen durchnässt, hat man eben Pech gehabt und Schluss. Bleibt man zufällig trocken, dann umso besser. Aber das hat nichts mit deiner Einstellung oder deinem Glauben zu tun. Der Regen macht alle gleich. Irgendwann trifft er jeden, und wenn der Regen fällt, ist jeder jedem anderen gleich – niemand ist besser, niemand schlechter, alle sind sie ein und dasselbe.
Es gibt so vieles, was ich dir erzählen möchte. Dann fange ich mit einer Sache an, und plötzlich merke ich, wie wenig ich davon weiß. Daten und Zahlen meine ich, präzise Informationen über unser Leben hier in der Stadt. Das wäre ja Williams Aufgabe gewesen. Die Zeitung hatte ihn hergeschickt, um zu recherchieren; wöchentlich sollte er einen Bericht abliefern. Historischer Hintergrund, Geschichten, aus dem Leben, einfach alles. Aber viel haben wir nicht bekommen, oder? Ein paar kurze Depeschen und dann Funkstille. Wenn William es nicht geschafft hat, darf ich kaum erwarten, dass es mir besser gelingt. Ich habe keine Ahnung, wie die Stadt sich am Leben erhält, und wollte ich diesen Dingen nachgehen, würde es wahrscheinlich so lange dauern, dass die Gesamtlage sich schon längst wieder verändert hätte, sobald Ergebnisse feststünden. Zum Beispiel, wo wird das Gemüse angebaut, und auf welchem Weg gelangt es in die Stadt. Ich kann dir die Antwort nicht geben, und ich habe auch noch niemanden getroffen, der es könnte. Die Leute reden von Landwirtschaftszonen im westlichen Hinterland, aber das heißt gar nichts. Die Leute reden hier von allem Möglichen, besonders von Dingen, über die sie nicht Bescheid wissen. Was mir merkwürdig vorkommt ist nicht, dass alles in die Brüche geht, sondern dass so vieles sich erhält. Es dauert lange, bis eine Welt verschwindet, viel länger, als man meinen sollte. Das
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