Im Land der letzten Dinge (German Edition)
Leben geht weiter, und jeder von uns bleibt Zeuge seines kleinen Privatdramas. Es stimmt, dass es keine Schulen mehr gibt; es stimmt, dass vor fünf Jahren der letzte Film vorgeführt wurde; es stimmt, dass nur noch die Reichen sich Wein leisten können, weil er so selten geworden ist. Aber verstehen wir das unter Leben? Lassen wir das alles beiseite und sehen dann nach, was übrig ist. Vielleicht ist das die interessanteste Frage von allen: was geschieht, wenn nichts mehr da ist, und ob wir auch das überleben oder nicht.
Die Folgen sind manchmal recht kurios und widersprechen häufig unseren Erwartungen. Äußerste Verzweiflung kann Hand in Hand mit der verwirrendsten Erfindungsgabe gehen; Entropie und Evolution verschmelzen. Weil nur noch so wenig übrig ist, wird fast nichts mehr weggeworfen, und Materialien, die man früher als Abfall schmähte, haben brauchbare Verwendung gefunden. Das alles hat mit einer neuen Art des Denkens zu tun. Die Knappheit der Dinge zwingt einen zu neuen Lösungen, und man ertappt sich dabei, dass man Vorstellungen Raum gibt, auf die man früher gar nicht gekommen wäre. Etwa beim Thema der menschlichen Exkremente, ich meine buchstäblich die menschlichen Exkremente. Sanitäre Anlagen gibt es nicht mehr. Rohrleitungen sind korrodiert, Toiletten sind kaputt und undicht, die Kanalisation ist großenteils außer Betrieb. Anstatt die Leute selbst zurechtkommen und ihre Abwässer auf eigene Faust beseitigen zu lassen – was schnell zu Chaos und Seuchen führen würde –, hat man ein System ausgetüftelt, demzufolge jeder Bezirk von einem Trupp Dungkollektoren patrouilliert wird. Dreimal täglich poltern sie durch die Straßen, zerren und schieben ihre rostigen Wagen über das geborstene Pflaster und läuten mit ihren Glocken, damit die Bewohner des Viertels nach draußen kommen und ihre Eimer in den Tank entleeren. Der Gestank ist natürlich umwerfend, und zu Anfang, als dieses System eingerichtet wurde, erklärten sich ausschließlich Zuchthäusler zu dieser Arbeit bereit – und die hatte man vor die zweifelhafte Wahl gestellt, ihre Strafdauer bei Verweigerung zu verlängern und bei Zustimmung zu verkürzen. Seither haben die Dinge sich freilich geändert, und die Fäkalisten bekleiden jetzt den Rang von Staatsbeamten und werden mit Unterkünften versorgt, die denen der Polizisten gleichwertig sind. Das scheint mir nur gerecht zu sein. Wenn sich aus dieser Arbeit nicht irgendein Vorteil ziehen ließe, warum sollte sich dann jemand darum reißen? Das zeigt nur, wie effektiv die Regierung unter gewissen Umständen arbeiten kann. Leichen und Scheiße – wenn es um die Beseitigung von Gesundheitsrisiken geht, entwickeln unsere Verwalter ein wahrhaft römisches Organisationstalent und werden zum Vorbild in Sachen nüchternes Denken und Leistungsfähigkeit.
Aber das ist noch nicht alles. Nachdem die Fäkalisten die Ausscheidungen eingesammelt haben, schaffen sie sie nicht einfach beiseite. Scheiße und Müll sind hier zu lebenswichtigen Ressourcen geworden, und da die Vorräte an Kohle und Öl auf ein prekär niedriges Niveau abgesunken sind, wird ein großer Teil der Energie, die wir überhaupt noch produzieren können, aus ebenjenen Stoffen gewonnen. Jede Zensuszone verfügt über ihr eigenes Kraftwerk, das ausschließlich mit Abfällen betrieben wird. Treibstoff für Autos, Heizmaterial für die Häuser – all das liefert das in diesen Anlagen erzeugte Methangas. Dir kommt das vielleicht komisch vor, könnte ich mir denken, aber da gibt es nichts zu lachen. Scheiße ist eine ernste Angelegenheit, und wer dabei erwischt wird, wenn er welche auf die Straße kippt, kommt ins Gefängnis. Rückfalltäter erhalten automatisch die Todesstrafe. Ein solches System kann jeglichem Übermut einen Dämpfer aufsetzen. Man fügt sich in das, was von einem verlangt wird, und ziemlich bald denkt man gar nicht mehr darüber nach.
Hauptsache, man bleibt am Leben. Wer hier überleben will, muss irgendeine Möglichkeit haben, Geld zu verdienen, wobei sich allerdings nur wenige Jobs im alten Sinn dieses Worts erhalten haben. Ohne Beziehungen kann man sich nicht einmal um die bescheidensten Regierungsstellen (Buchhalter, Hausmeister, Angestellter bei den Transformationszentren und so weiter) bewerben. Dasselbe gilt für die verschiedenen legalen und illegalen Geschäfte im Stadtgebiet (die Euthanasiekliniken, die unorganisierten Lebensmittelmärkte, die falschen Hausbesitzer). Wenn man nicht bereits
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